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Wer Boeses saet

Wer Boeses saet

Titel: Wer Boeses saet
Autoren: Olivier Descosse
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mehr Türen schlossen sich. Wie konnte es ihm unter diesen Umständen gelingen, den Damm zu brechen?
    Da traf er die ehrlichste Entscheidung seines Lebens. Und die verrückteste. Sollte er der Polizei beitreten müssen, um seine Ziele zu erreichen – warum nicht? Er war gerade fünfunddreißig Jahre alt geworden, die Kommissarlaufbahn stand ihm also noch offen. Sicher, er würde noch einmal studieren müssen. Aber das schreckte ihn eigentlich nicht. Um sich über die menschliche Psyche auf dem Laufenden zu halten, hatte er schon immer seine Kenntnisse aktualisieren müssen. Wenn alles gut ging, würde er bei allem, was er sich anrechnen lassen konnte, schon bald am Ziel sein.
    Er kündigte seine Mitgliedschaft bei der Psychoanalytischen Gesellschaft, gab seine Praxis auf und schrieb sich an der Universität von Assas zum Jurastudium ein. Zwei surrealistische Jahre im Kreise junger Leute, die ihn begafften wie ein seltenes Tier im Zoo.
    Und in gewisser Weise war er das ja auch. Tagsüber war er an der Uni, den späten Nachmittag verbrachte er mit Charlotte, die gerade in die sechste Klasse gekommen war, und am Abend lernte er für seine Kurse. Ein mönchisches Leben, ausgerichtet auf nur ein Ziel: Wiedergutmachung. Mit dem Magisterabschluss öffneten sich ihm die Tore der ENCP , der nationalen Polizeikommissarschule in Mantes-la-Jolie. Zwei Jahre lang eignete er sich die Grundlagen seines neuen Berufes an und machte sogar ein Praktikum. Strafverfahren, Umgang mit Waffen, Befehlstechnik … Dann ließ man ihn übergangslos ins kalte Wasser springen.
    Sein erster Kripoeinsatzort war ein Außenposten in La Courneuve, einer vergessenen Schlafstadt im hintersten Winkel des Départements Seine-Saint-Denis. Er lernte die Welt der Vororte kennen. Eine aggressive, verrohte Welt, in der ein paar auf die Ersatzbank geschickte Bevölkerungsgruppen mehr oder weniger gut zu überleben versuchten. Das Elend berührte ihn zwar, dennoch war er gezwungen, sich eine harte Schale zuzulegen. Seine guten Manieren legte er nach und nach ab und lernte, mit Drohungen und Einschüchterungen zu arbeiten. Mit jedem Tag, mit jedem Konflikt passte er sich ein wenig besser an. Seine Erfahrungen als Psychoanalytiker halfen ihm dabei. Mit ihrer Hilfe bekam er das bunte Volk, mit dem er jeden Tag zu tun hatte, besser in den Griff.
    Ganz allmählich nahm er den Geruch und die Farbe seiner Umgebung an. Er übernahm die Sprache, die Riten, die Codes. Nur in puncto Gewaltanwendung zog er eine scharfe Grenze. Im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen vermied er es so oft wie möglich, zu diesem Mittel zu greifen.
    Zwei Jahre gingen vorüber. Obwohl François ganz in seine Arbeit in der Kampfarena eingetaucht war, vergaß er doch nicht sein ursprüngliches Ziel: Er wollte dem Dezernat für Verbrechensbekämpfung beitreten und das praktizieren, wofür er eigentlich der Polizei beigetreten war. Er bombardierte seine Vorgesetzten mit Anträgen. Jedes Mal führte er in sorgsam ausgetüftelten Motivationsbegründungen seine Erfahrung als Psychoanalytiker an. Er erhielt nie eine Antwort. Die Trägheit des Großen Hauses schien unüberwindbar.
    Dann keimte eines Morgens Hoffnung auf. Ein Anruf von Polizeidirektor Roger Hénon, dem Oberhäuptling des OCRVP , der Zentrale zur Bekämpfung von Gewalt gegen Personen, das erst vor Kurzem gegründet worden war, um die Zusammenarbeit auf nationaler Ebene zu erleichtern.
    Die Unterredung fand in Nanterre statt, im Gebäude der Zentraldirektion der Kripo. Hénon, der über eine visionäre Intelligenz verfügte, hatte begriffen, von welch großem Interesse François für die Polizei sein konnte. Er kannte seine Akte auswendig – wusste über seinen beruflichen Werdegang und sein Privatleben Bescheid – und wollte sich ein eigenes Urteil über diesen Mann bilden.
    Nach zehn Minuten schlug er ihm etwas vor, wovon dieser nicht zu träumen gewagt hatte. Man würde ihn von seiner Dienststelle abziehen und als außerordentlichen Kommissar einsetzen. Da man nicht die Absicht hatte, eine Stelle für Operative Fallanalyse einzurichten, würde er als eine Art technischer Berater eingesetzt und auf Anfrage zur Bearbeitung besonderer Fälle hinzugezogen werden. Die einzige Bedingung war: Er würde sechs Monate nach Quantico gehen müssen, um sich an der FBI -Academy auf dem Gebiet der Tatortanalyse ausbilden zu lassen. Falls François Hénon vertraute, würde er ihm Gelegenheit geben, seine Fähigkeiten auf die Probe zu
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