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Wer Boeses saet

Wer Boeses saet

Titel: Wer Boeses saet
Autoren: Olivier Descosse
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Reihe von Großaufnahmen in schwarz-weiß. Obwohl die Faxdokumente von sehr schlechter Qualität waren, verdarben sie ihm doch den Appetit. Fleischstücke, im Bereich der Gelenke grob zerhackt. Einige Körperteile waren zerfetzt und ließen vermuten, dass sich ein Tier an ihnen zu schaffen gemacht hatte. Die Tatsache, dass die Stücke bekleidet waren, nahm dem Grauen nichts von seiner Wucht, vielmehr bekam das Ganze dadurch eine unerträgliche Realitätsnähe. Ein Gesicht gab es nicht mehr, nur eine einzige Fleischwunde. Keine Lippen, keine Nase, auch keine Augenlider. Nur das Gebiss, freigelegt bis zu den Kieferknochen.
    François drehte es schier den Magen um. Er nahm einen Schluck Tee und machte dann mit dem Bericht der Leichenbeschau weiter. Wahrscheinliche Identität des Opfers: noch unbekannt. Zumindest die Felder daneben waren mit Kugelschreiber angekreuzt. Person weiblichen Geschlechts, schwarze Augen, blondes Haar. Das war das Einzige, was man über diese Frau wusste.
    Über das äußere Erscheinungsbild der Leiche gab das Formular mit gewohnter Präzision Auskunft. Größe, Körpergewicht, Tätowierungen, Hygienezustand … Nichts wirklich Aufregendes. Ein Sternchen verwies auf eine handschriftliche Notiz. François entdeckte ein paar krakelige Zeilen, die eine zittrige Hand auf ein leeres Papier gekritzelt hatte.
    Nach Angaben des Rechtsmediziners hatte man von dem Opfer nur Stücke gefunden. Arme, Beine, Thorax und Kopf, alles war da. Aber zerstückelt …
    Er blätterte die Seite um und vertiefte sich in die letzte Rubrik: die von rechtsmedizinischer Seite vermutete Todesursache. Auch hier gab es nichts Neues. Abgesehen von der Gewissheit, dass es sich um einen gewaltsamen Tod handelte, hatte der Mediziner keine Angaben zur Todesursache gemacht. Ihm war lediglich die Blässe der Haut aufgefallen, und er hatte darauf geschlossen, dass die Venen blutleer waren. Wie schon Hénon gesagt hatte: Man hatte die Frau ausbluten lassen.
    Der Kommissar legte die Dokumente beiseite und versuchte nachzudenken. Wer war diese Frau? Hatte der Mörder sie gekannt? Warum hatte er ihr das Gesicht weggeschnitten und ihren Körper zerstückelt?
    Nur zwei Hypothesen schienen es ihm überhaupt wert zu sein, sich mit ihnen zu befassen. Zunächst einmal die Annahme, dass hier jemand auf grausame Art und Weise eine offene Rechnung beglichen hatte. Der Modus Operandi ließ auf eine Bestrafung schließen. Etliche Zuhälter zögerten nicht, ihre Mädchen zu verstümmeln, wenn sie aus dem Vertrag ausbrechen wollten. Der grausame Anblick sollte die anderen Prostituierten abschrecken, falls eine von ihnen sich nach der Freiheit sehnen sollte. Das würde auch erklären, warum man die Stücke so leicht gefunden hatte …
    Aber im Grunde glaubte François nicht wirklich an diese Fährte. Die Verwendung einer Säge würde ja noch zu den Gepflogenheiten im Milieu passen, nicht aber das Entfernen des Gesichts. Das war zu raffiniert, zu subtil. Außerdem hatte es eine symbolische Bedeutung, die in diese Welt einfach nicht passte. Seine psychoanalytische Erfahrung ließ François darin eher den Wunsch erkennen, sich die Identität des Opfers anzueignen, nicht aber die Absicht, es unkenntlich zu machen. Dazu hätte ein Fläschchen Vitriol genügt.
    Die zweite Möglichkeit, nämlich dass es sich um die Tat eines Geistesgestörten handelte, war naheliegender. Ein niederträchtiges, ritualisiertes Verbrechen, dem ein perverser Trieb zugrunde lag, von einem kranken Gehirn kunstvoll in Szene gesetzt.
    Als er über diesen Einfall nachdachte, war es gerade sehr still in François’ Wohnung. Dass Hénon ihm den Fall anvertraut hatte, war kein Zufall. Er hatte Erfahrung, besaß die untrügliche Spürnase eines alten Hasen, hatte schon die schlimmsten Horrorszenarien gesehen. Die wenigen Dinge, die Hénon über den Fall wusste, hatten genügt, ihn dazu zu bewegen, seinen freien Mann darauf anzusetzen. Er hatte also ähnliche Schlüsse gezogen.
    Marchand stand vom Sofa auf und ging noch einmal ins Schlafzimmer. Eine kurze Dusche, ein sauberer Anzug, keine Krawatte. Niemals. Nachdem er Kleidung zum Wechseln rausgesucht hatte, schnappte er sich zwei volle Magazine für seine Glock .23 und stopfte alles in seinen Koffer.
    Mitternacht.
    Wenn er schnell fahren würde, könnte er noch rechtzeitig dort ankommen.
    5
    François raste sieben Stunden lang mit Fernlicht über die Autobahn, ohne sich um die Geschwindigkeitsbegrenzung zu scheren. Im Morgengrauen nahm
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