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Wer Boeses saet

Wer Boeses saet

Titel: Wer Boeses saet
Autoren: Olivier Descosse
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stellen.
    Dieser Gedanke holte ihn wieder in die Gegenwart zurück. Jetzt arbeitete er schon zwei Jahre mit Roger zusammen, und es war nichts so gelaufen wie geplant. Man nahm zwar bei Geiselnahmen seine Dienste in Anspruch, und bei ganz banalen Mordfällen durfte er den Kollegen helfen oder auf dem Papier Täterprofile erstellen, doch einen Fall diesen Kalibers hatte man ihm bislang noch nicht anvertraut.
    Sein Blick fiel auf den Umschlag auf dem Beifahrersitz. Diesmal, so stand zu vermuten, hatte sich das Blatt für ihn gewendet.
    4
    Ein nüchternes Dekor.
    Weißer Boden, glänzende Küchengeräte, Halogenlampen. Die betont moderne Küche war vor allem eines: funktional. Ganz wie der Rest der Dreizimmerwohnung, die François seit drei Jahren bewohnte. Ein großer, halbmondförmiger Salon nahm zwei Drittel der Wohnfläche ein, ansonsten gab es noch ein schönes Badezimmer und zwei kleine Schlafzimmer: eines für ihn, eines für Charlotte.
    Er hatte die Wohnung nach Dianes Tod gekauft und damit sein Loft im Bastille-Viertel gegen ein kleines, vierstöckiges Wohnhaus im 15. Arrondissement eingetauscht. Ein Standardbau am Seine-Ufer, zwei Schritte vom paquebot entfernt, dem riesigen Kasten der France Télévisions. Aber der eigentliche Vorteil war ein anderer, denn von hier aus war es nicht weit bis zu der Frau, ohne die das Ganze ziemlich kompliziert geworden wäre: zu seiner Mutter.
    Gabrielle Marchand wirkte zwar auf den ersten Blick etwas kühl, war aber ein Ausbund an Liebenswürdigkeit. Sie hatte ihren Sohn in der harten Phase unterstützt, in ihrer manchmal etwas übergriffigen, aber doch stets warmherzigen Art. Auf sie war stets Verlass gewesen. Ohne sie hätte François sich nach dem Drama nicht um Charlotte kümmern können. Allerdings im Grunde nicht mehr als jetzt auch, denn sein neuer Beruf forderte ihm einige Überstunden ab.
    Heute Abend hatte Charlotte wieder einmal bei ihrer Großmutter Unterschlupf gefunden, wie sie ihm auf seinem Anrufbeantworter mitgeteilt hatte. Acht Jahre nach dem Mord an ihrer Mutter war das junge Mädchen noch immer sehr labil. Sie brauchte einen verlässlichen und sicheren Rahmen, vor allem in dem Jahr vor dem Abitur.
    François bereitete sich eine kalte Platte, schnappte sich eine Dose mit grünem Tee und ging wieder in den Salon. Jetzt war er schon fünfzehn Minuten in seinem Refugium und hatte den Briefumschlag noch immer nicht geöffnet. Er zögerte den Moment hinaus, versuchte erst, innerlich ganz leer zu werden, um möglichst konzentriert zu sein.
    Eine bei lebendigem Leib zerstückelte Frau.
    Der das Gesicht fehlte.
    Der reine Wahnsinn.
    Er setzte sich aufs Sofa, legte die Füße auf den Tisch und machte sich an die Arbeit. Als Erstes las er das Protokoll über die ersten Beweismittel, die noch frischen Eindrücke, die bei einer Ermittlung die Richtung vorgaben. Die ihr Farbe verliehen.
    Die Polizisten waren von einem Pärchen benachrichtigt worden, das ein Picknick veranstaltet hatte. Ihr Sohn war aus Versehen über die Überreste des Opfers gestolpert, nachdem er ins Unterholz ausgebüxt war und sein Weg ihn bis zu dem verfallenen Bauwerk geführt hatte. Aufgrund der örtlichen Gegebenheiten hatte der Mörder gar nicht erst versucht, die Leiche zu verstecken. Jedenfalls nicht wirklich. Der Ort war zwar ein wenig abgelegen, befand sich aber gleich neben einem sehr bekannten Touristenziel, dem »Ockersteinbruch«. Der Bau selbst war mit Graffiti verschmiert und vollgemüllt. Also war er auch zugänglich. Das Blut, das im Umkreis verspritzt worden war, war der Beweis, dass der Täter den Mord an Ort und Stelle begangen hatte.
    François aß ein Stückchen Lachs, während er weiterlas. Die Polizisten hatten Fotos gemacht, Zeichnungen angefertigt, Pläne gezeichnet und alle eindeutigen Spuren darin eingetragen. Mit anderen Worten: Sie hatten den Tatort vor dem Eintreffen der Spurensicherungsexperten und Techniker festgehalten. Als er sich diese grundlegenden Beweismittel ansah, fiel ihm auf, dass etwa ein Dutzend Fußabdrücke auf dem Boden zu erkennen waren, mehr oder minder frische Spuren, die von Spaziergängern stammten. Angesichts der Unmenge davon wurde einem klar, wie schwierig es sein würde, eine eindeutige Spur herauszuarbeiten …
    François fuhr in seiner Lektüre fort. Er nahm sich die Vernehmungsprotokolle der ersten Zeugen vor, die des Kindes, das die Leichenteile gefunden hatte, und die seiner Eltern. Nichtssagende Details. Dann stieß er auf die Fotos, eine
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