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Wer Boeses saet

Wer Boeses saet

Titel: Wer Boeses saet
Autoren: Olivier Descosse
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akzeptabel befunden.«
    Indem er die Sache so darstellte, überrumpelte François seinen Gegner. Er versuchte erst gar nicht mehr, ihn zu überreden, die Geisel freizulassen oder sein eigenes Leben zu retten. Stattdessen nahm er ein tödliches Ende einfach in Kauf.
    Und er lag goldrichtig mit dieser Strategie.
    »Ihr habt sie ja nicht mehr alle …«
    »Moment mal … Das wollten Sie doch, oder etwa nicht?«
    Gelächter. Die Verbitterung war ihm deutlich anzuhören. Er ließ ein paar Sekunden verstreichen, bevor er weitersprach.
    »Georges, ich muss Sie noch um einen Gefallen bitten. Ich würde gerne ein letztes Mal mit Cathie sprechen.«
    »Wozu?«
    »Ich muss ihr was erklären.«
    Ein längeres Schweigen. Dann ertönte wieder die kratzige Stimme im Lautsprecher, diesmal klang sie etwas ferner.
    »Bleiben Sie dran … Ich gebe sie Ihnen.«
    Erleichterung. Die Frau lebte also noch. Aber sie mussten sich beeilen.
    »Nein. Ich komme rein.«
    Sofort war das alte Misstrauen wieder da.
    »Reinkommen?«
    »Ich muss ihr auch etwas geben. Etwas von Thomas.«
    Marchand spielte einen Trumpf aus. Er wusste, dass Georges den Sohn seiner Exlebensgefährtin liebte, er hatte den Jugendlichen wie sein eigenes Kind großgezogen. Die Beziehungsprobleme, die Trennung drei Monate zuvor, all das hatte seiner Zuneigung nichts anhaben können. Die Mutter sollte dafür bezahlen, nicht der Junge.
    Der Mann blieb weiter auf der Hut.
    »Ihr wollt mich reinlegen, was? Kaum mach ich die Tür auf, fallen auch schon die Rambos über mich her …«
    »Es ist keiner mehr da, Georges. Schauen Sie durchs Fenster. Nur noch Sie und ich.«
    Wieder Stille. Der Polizist suchte die Kontrollbildschirme ab. Er glaubte einen Schatten wahrzunehmen. Nach einer Weile schnarrte die tonlose Stimme wieder los.
    »Was willst du der Schlampe denn geben, hä?«
    »Einen Brief.«
    »Können Sie den nicht auch am Telefon vorlesen?«
    »Es ist persönlich. Ich muss ihn ihr überbringen.«
    Noch zögerte der Kerl. François zog sein letztes Argument aus dem Hut.
    »Ich glaube, da steht auch was für Sie drin. Also letztlich betrifft es sie alle drei …«
    Diesmal war der Damm gebrochen. Wie er so das Bild eines verlorenen Glücks heraufbeschwor, das Bild einer Familie, die zusammengehörte, traf der Polizeibeamte den Geiselnehmer mitten ins Herz. Als seine Frau ihn verlassen hatte, war sein Leben mit einem Mal zerbrochen. Er würde sie lieber tot sehen, als mit der Vorzustellung leben zu müssen, wie sie ohne ihn zurechtkam.
    »Einverstanden. Kommen Sie. Aber keine krummen Sachen. Sonst veranstalte ich hier ein Feuerwerk.«
    François unterbrach die Verbindung und rieb sich die Augen. Der Druck, dem er in den letzten Stunden ausgesetzt gewesen war, machte sich jetzt mit bohrenden Kopfschmerzen bemerkbar. Er zog eine versilberte Bonbondose aus seiner Tasche. Darin befanden sich Xanax-Tabletten, ein leichtes Mittel gegen Angst.
    Er schob sich zwei unter die Zunge. Bitterer Geschmack. Das Gefühl, ein Stück Kreide zu lutschen. Er wartete eine Minute, bis die Moleküle des Arzneistoffs Alprazolam sich in seinem Blut verteilt hatten. Sein Kopf wurde allmählich leer. Die Welle ebbte wieder ab.
    Er legte seine Waffe auf einen Klapptisch und steckte sich den Ohrhörer des Funkgerätes ins Ohr. Nachdem er es getestet hatte, trat er auf die Straße.
    Die Nacht war über Montrouge hereingebrochen, es war kalt und feucht, alles in milchigen Nebel gehüllt. Die Einsatzkräfte hatten sich in die Sicherheitszone zurückgezogen, das ganze Viertel war evakuiert worden. Nur die in einiger Entfernung platzierten Scharfschützen konnten seine Bewegungen durch ihre Nachtsichtgeräte verfolgen.
    Er klappte den Kragen seines Dreiviertelmantels hoch und ging auf den Pavillon zu. Ein widerlicher Nieselregen schlug ihm ins Gesicht, setzte sich ihm in die Haare und lief ihm den Nacken hinunter. Er spürte es gar nicht. Sein Einsatz ließ ihn alles andere vergessen.
    Wie sonst auch.
    Als er das schmiedeeiserne Gitter aufdrückte, fragte er sich noch, wie er vorgehen sollte. Er hatte keinen Brief, die ganz Geschichte war erstunken und erlogen. Seine Erfahrung musste als Ersatz für eine Strategie herhalten. Er wusste genau, der direkte Kontakt von Angesicht zu Angesicht würde andere Gefühle wecken. Nur welche? Das war der springende Punkt. Aber jetzt half alles nichts mehr …
    Die Eingangstür war nur angelehnt.
    »Georges, ich bin’s. Ich komm jetzt rein.«
    Keine Antwort. Der Polizist
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