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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich
Autoren: Michael Peinkofer
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PROLOG
    Bretagne
Herbst 1151
    Heftiger Wind strich von Norden über die See und peitschte sie auf, ließ graue Brecher gegen die Klippen rollen, um sie schließlich am schwarzen Fels zerschellen und sich in weißer Gischt auflösen zu lassen.
    Eine einsame Gestalt stand auf den Klippen, als wollte sie den tobenden Elementen trotzen, die Hände gefaltet und das Haupt gesenkt. Der junge Mann trug Kleidung und Rüstzeug eines Ritters; Helm und Haube hatte er jedoch abgenommen, sein Schwert steckte neben ihm im kargen Boden. Der Ritter achtete weder auf den heulenden Wind, der an ihm zerrte, durch sein Haar fuhr und seinen Umhang bauschte, noch auf den einsetzenden Regen. Seine Aufmerksamkeit gehörte dem kleinen Hügel, der an der höchsten Stelle der Klippe aus faustgroßen Steinen aufgeschichtet worden war, gekrönt von einem hölzernen Kreuz, in das drei Namen geritzt worden waren.
    Clarisse.
    Ruvon.
    Alicia.
    Wie ein Echo klangen die Namen in seinem Bewusstsein nach, und bei jedem Widerhall glaubte er vor Schmerz den Verstand zu verlieren. Eine endlos scheinende Weile stand er so, während der Regen seine Kleider durchnässte und den Boden zu seinen Füßen aufweichte. Dem Ritter war es gleichgültig, weder Zeit noch Welt schienen mehr Gewalt über ihn zu haben.
    Irgendwann beugte er die Knie und sank nieder. Auf sein Schwert gestützt, sprach er ein stilles Gebet, das Haupt gebeugt und die Augen geschlossen. Dann, als der Schmerz unerträglich wurde, warf er den Kopf in den Nacken und brüllte seine Trauer und seine Verzweiflung hinaus, doch der Sturm trug seinen Schrei auf rauschenden Schwingen davon.
    Ungehört.
    Unerwidert.
    Jäh erhob sich der Ritter, zog das Schwert aus dem Boden und rammte es in die Scheide an seinem Gürtel. In einem Entschluss, der ihn Kraft und Überwindung kostete, riss er sich von dem Grabhügel los und wandte sich um, ging zu den beiden Tieren, die er ein wenig abseits im Schutz eines Hünengrabes angepflockt hatte. Das eine war ein destrier , ein hochgewachsenes Streitross, dessen Schabracke ebenso durchnässt war wie der Ritter selbst; das andere ein roncin , ein Packpferd, das die Habe des Ritters trug – das, was ihm noch davon geblieben war.
    Der Ritter drehte sich nicht ein einziges Mal um, während er die Zügel löste und sich auf den Rücken des Rosses schwang. Unnachgiebig trieb er die Tiere an, und schon kurz darauf hatte der Vorhang aus Regenschleiern und grauem Nebel ihn verschlungen.
    Nordfrankreich
Winter 1172
    Sie rannte, so schnell sie konnte.
    Weder spürte sie die Kälte noch den harschen Schnee, auf den sie ihre nackten Füße setzte, hastig und in rascher Folge.
    Alles, was sie spürte, war Angst.
    Todesangst.
    Das Herz schlug ihr bis zum Hals, während sie immer weiterrannte, zwischen den kahlen Bäumen des Waldes hindurch den Hang hinab. Auf die Zweige, die ihr ins Gesicht peitschten und blutige Striemen hinterließen, achtete sie ebenso wenig wie auf den eisig kalten Wind, der ihr vom Tal entgegenblies. Sie wollte nur weiter, zurück nach Hause.
    Im Laufen blickte sie sich um.
    Der Wolf war noch näher gekommen.
    Deutlich konnte sie die kalten, eisblauen Augen sehen, das zähnestarrende Maul, aus dem dampfender Atem drang – und ihre Angst steigerte sich in Panik.
    Gequält schrie das Mädchen auf und lief noch schneller, die Bestie im Nacken, die weiter aufholte. Als hätte sich die Zeit verlangsamt, konnte es jeden einzelnen Muskel unter dem grauschwarzen Fell des Untiers arbeiten sehen, glaubte seinen Atem im Nacken zu fühlen.
    Um sein Leben rennend, strapazierte das Mädchen seinen zerbrechlichen, ausgemergelten Körper bis zum Äußersten – und erreichte unvermittelt den Hohlweg zum Dorf. Vielleicht, mit ein wenig Glück …
    Das Mädchen schloss die Augen und hastete weiter durch den gefrorenen Schnee, ungeachtet der blutigen Spuren, die seine wunden Füße hinterließen. Die Bestie musste noch immer hinter ihm sein … aber warum konnte es sie plötzlich nicht mehr hören?
    Ein flüchtiger Blick über die Schulter.
    Der Wolf war nicht mehr da!
    Unfähig, darüber Erleichterung oder auch nur Verwunderung zu verspüren, eilte das Mädchen weiter bis zum Ende des Hohlwegs, von wo aus man die Häuser des Dorfes bereits sehen konnte – doch der Anblick, der sich ihm bot, war so unerwartet und erschreckend, dass es wie angewurzelt stehen blieb.
    Das Dorf stand in Flammen!
    Orangerote Feuerzungen loderten von den strohgedeckten Dächern zum grauen Himmel,
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