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Wer Boeses saet

Wer Boeses saet

Titel: Wer Boeses saet
Autoren: Olivier Descosse
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Träne vergossen noch in irgendeiner Weise gezeigt, dass sie litt. Sie hatte einfach die Kabel herausgezogen, die sie mit der Welt der Menschen verband.
    François brachte seine Tochter zu seinen Eltern. Er zog sich eine Weile in das Landhaus der Familie zurück, ein Anwesen in der Sologne, das Diane geerbt hatte. Er wollte sich an den Ort zurückziehen, den seine Frau mehr geliebt hatte als alles andere auf der Welt, und dort seine Wunden lecken. Vergebens. Tag und Nacht, in jeder Sekunde, wurde er von quälenden Fragen gemartert.
    In welchem Moment war alles außer Kontrolle geraten?
    Hätte er seinen Patienten in eine andere Richtung führen können?
    Hätte er das Schlimmste verhindern können?
    Die Antworten ließen auf sich warten. Dafür wurde er von starken Schuldgefühlen gequält. Von dem Gedanken, dass die Frau seines Lebens tot war, nur weil er einen Fehler gemacht hatte. Und dass auch Charlottes Leben für alle Zeiten zerstört sein würde.
    Mit den schwärzesten Gedanken kehrte er nach Paris zurück und hielt weiter Analysesitzungen ab. Seine Tochter sprach noch immer nicht. Eine Schockreaktion mit vorübergehender Aphasie. Die Behandlung würde sich lange hinziehen, und eine Garantie auf Heilung gab es nicht.
    Vor diesem gähnenden Abgrund klammerte sich François an das Einzige, das ihm noch geblieben war: an seinen Schmerz. In ihm wuchs der nicht zu unterdrückende Wunsch, alles wiedergutmachen zu wollen. Er setzte es sich in den Kopf, sich dieser Schuld, die er auf sich geladen hatte, zu entledigen. Aber wie sollte das vonstattengehen? In seinem Beruf begegneten einem nicht alle Tage so extreme Fälle wie dieser.
    Er brauchte etwas anderes.
    Einen anderen Blickpunkt.
    Den direkten Kontakt mit dem Tod.
    Da kam ihm ein verrückter Gedanke. Bei einer Konferenz hatte François viel über diesen Beruf erfahren, der auf der anderen Seite des großen Teichs so große Furore machte. Die Amerikaner hatten ihm einen durch Kino und Fernsehen popularisierten Namen gegeben: Profiler .
    Wie die meisten Leute wusste er über dieses Thema so gut wie nichts. In seiner Vorstellung handelte es sich eher um eine Kunst als um einen Beruf im eigentlichen Sinne. Eine gelungene Kombination aus psychologischen Techniken, Intuition und intellektueller gedanklicher Durchdringung, deren Ziel darin bestand, die Mörder dingfest zu machen.
    Eine Woche lang durchkämmte er das Internet auf der Suche nach Informationen. Das war die beste Art, seinen Wunsch einer Realitätsprüfung zu unterziehen. Er erfuhr, dass man den Profiler in Frankreich als Profileur bezeichnete, mit einem Neologismus, der sehr schön widerspiegelte, wie weit Frankreich in diesem Bereich allen anderen hinterherhinkte. Aus den unterschiedlichsten Gründen hatte die Kripo nie auf dieses Fachgebiet gesetzt. Zunächst einmal, weil es sich vor allem mit Serientätern beschäftigte, was als amerikanische Besonderheit angesehen wurde, als etwas, das mit der Gewalt in diesem Land zu tun hatte und mit dessen Größe. Außerdem misstrauten die französischen Polizeibeamten den Psychologen: Das seien doch alles »Scharlatane« und die guten alten Ermittlungsmethoden seien bei weitem besser geeignet. Trotzdem entwickelten sich die Dinge weiter. Als Guy Georges, Francis Heaulme oder Émile Louis in Erscheinung traten, erkannte man, dass auch in Frankreich Serienkiller ihr Unwesen trieben. Der Innenminister dachte über Programme zur Zentralisierung von Daten nach, wie etwa das amerikanische VICAP , und über die Entwicklung des FNAEG – der französischen Nationalen Gendatenbank –, die den Datenabgleich am Tatort gefundener Beweismittel mit dem Genom Tausender polizeilich erfasster Sexualstraftäter gestattete. Vor Kurzem hatte die Polizei für die interne Ausbildung ein Programm ausgearbeitet, das »Tatortanalysen« liefern sollte.
    Doch all diese mageren Fortschritte änderten nichts daran, dass wir noch alles nachzuholen hatten. Wir schrieben das Jahr 2001, die Polizei hatte noch nicht entschieden, ob sie Psychologen in ihren Personalbestand aufnehmen, ihnen einen Ausweis in den drei Landesfarben ausstellen und sie mit den damit einhergehenden Machtbefugnissen ausstatten wollte. Er wurde also vorerst dazu verdonnert, bei Verfahren, deren Ablauf klar vorgezeichnet war, Gutachten zu schreiben, sobald man die Verbrecher hinter Schloss und Riegel hatte.
    François’ Enttäuschung war so groß wie ehemals seine Erwartungen. Je mehr er auf dem Gebiet dazulernte, desto
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