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Wer Boeses saet

Wer Boeses saet

Titel: Wer Boeses saet
Autoren: Olivier Descosse
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Vorsicht walten, das war ihr hoch anzurechnen. Der Kommissar sagte:
    »Gehen wir?«
    Sie gingen wieder an die frische Luft. Nach den aggressiven Halogenlampen fühlte sich das natürliche Sonnenlicht wie ein sanftes Streicheln an. François tat einen tiefen Atemzug, dann schlug er vor:
    »Wie wär’s, wenn Sie mir Ihren Chef vorstellten?«
    Die Ermittlungsbeamtin zog fröstelnd den Reißverschluss ihres Anoraks hoch.
    »Ich warne Sie. Er ist kein angenehmer Zeitgenosse.«
    »Ein bisschen so wie Ihr Kollege vielleicht …«
    Zum ersten Mal lächelte sie.
    »Schlimmer.«
    6
    »Setzen Sie sich.«
    Es war dem Tonfall von Kommissar Richard Devaux, dem Leiter der Kripo Avignon, deutlich anzumerken, dass er keinen Widerspruch duldete. Er war groß und kräftig, hatte sehr helle Augen und ein eckiges Gesicht, das ihn wie ein römischer Feldherr aussehen ließ. Er trug ein weißes Hemd, eine Levi’s 501 und texanische Stiefel aus Krokodillederimitat. Das war sein Playboyoutfit aus den Achtzigerjahren – damals war er dreißig gewesen und auf der Suche nach einem Ganoven, den er auf frischer Tat ertappen konnte, die heißen Viertel von Paris abgelaufen.
    François nahm Platz. Julia Drouot setzte sich neben ihn. Hinter ihnen stand der muskelbepackte Polizeibeamte, der die junge Frau vor zwei Stunden begleitet hatte. Und schließlich, an die Wand mit den Stierkampfpostern gelehnt, noch eine weitere merkwürdige Gestalt: eine Art Barde mit kurz geschorenen Haaren, einer Weste mit Chinakragen und einer eng anliegenden bordeauxfarbenen Hose aus Polyacryl. In dem kleinen Büro im ersten Stock des Zentralkommissariats von Avignon war die Anspannung deutlich zu spüren.
    »Ich werde mich klar ausdrücken.« Devaux ging in die Offensive. »Wir sind in der Lage, den Fall von A bis Z allein zu lösen. Aber die Entscheidung wurde an höherer Stelle getroffen, und es liegt nicht in meiner Hand, mich dem zu widersetzen.«
    Marchand hatte es schon des Öfteren mit Situationen dieser Art zu tun gehabt. Seine unaufgeforderte Einmischung in die Ermittlungsarbeit ließen die Kommissare oft nur zähneknirschend über sich ergehen, da konnte das Verbrechen noch so grauenvoll sein. Er gab sich möglichst zurückhaltend.
    »Verstehe.«
    »Das glaube ich kaum. In Paris sind Sie wahrscheinlich der Oberhäuptling, aber hier bin ich der Boss. Hier sind Sie meinen Weisungen unterstellt.«
    »Ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Sonst nichts.«
    Kurzes Zögern. Die Ruhe des Profilers hatte Devaux offensichtlich aus dem Konzept gebracht. Der Cowboy räusperte sich, bevor er fortfuhr:
    »Sehr gut. Dann wollen wir die Vorstellungsrunde mal hinter uns bringen. Julia kennen Sie bereits, wie ich annehme. Der Beamte hinter Ihnen ist Gomez. Sie sind ihm heute früh begegnet. Und dann haben wir da noch Hermann« – bei diesen Worten deutete er auf den Barden.
    »Zusammen mit Ihnen macht das nur vier Kripobeamte«, stellte François mit Unschuldsmiene fest.
    »Das reicht vollkommen. Wir arbeiten mit Hauptmann Carrioux von der Regionalabteilung Avignon zusammen. Er hat dreißig Männer im Einsatz. Ich koordiniere die ganze Abteilung.«
    Er hielt inne, als warte er auf eine Reaktion. Marchand zeigte keinerlei Regung. Nach ein paar Sekunden lastenden Schweigens sprach Devaux weiter:
    »Die ersten Ermittlungen haben nichts ergeben. Keinerlei Spuren, weder in dem Bauwerk noch im Umkreis.«
    »Haben Sie das Opfer identifiziert?«
    »Ich habe soeben den Bericht erhalten. Der Gebissabdruck entspricht dem einer jungen Frau namens Lucie Barmont. Siebzehn Jahre alt. Es liegt keine Vermisstenanzeige vor.«
    Er reichte ihm eine geschlossene rote Mappe mit Gummizug. Darin befanden sich eine Karteikarte und ein Fotoabzug von ziemlich schlechter Qualität. Die Jugendliche sah direkt ins Objektiv, wahrscheinlich das eines Passbildautomaten, der sie verewigt hatte. Sie hatte ein zartes Gesicht, schönes blondes Haar und einen herausfordernden Blick. Ein angenehmes Äußeres, das noch etwas ganz Frisches an sich hatte.
    François legte das Dokument beiseite.
    »Eine Minderjährige?«
    »Wurde im letzten Jahr mündig gesprochen.«
    »Weshalb denn das?«
    »Keine Ahnung.«
    »Was weiß man über sie?«
    »Arbeitet in einem Friseursalon im Zentrum von Avignon. Ledig, keine Kinder, keine Vorstrafen. Bei keiner unserer Dienststellen liegen Hinweise vor. Sie lebte allein in einem Einzimmerappartement, gerade mal einen Katzensprung von ihrer Arbeitsstelle entfernt.«
    Mit anderen Worten:
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