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Wenn Tote schwarze Füße tragen

Wenn Tote schwarze Füße tragen

Titel: Wenn Tote schwarze Füße tragen
Autoren: Léo Malet
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Der zum Tode Verurteilte
     
     
     
    Es schlägt Mitternacht, als ich
zusammen mit einer Handvoll Leute den Bahnhof von Montpellier verlasse. Besagte
Handvoll ist soeben mit mir im Zug aus Nîmes, wo ich mit einem Flugzeug der Air-Inter gelandet war, in Montpellier eingetroffen. Mir ist ganz seltsam zumute. Eine
Auswahl gemischter Gefühle läßt mich im Eingang der Bahnhofshalle
stehenbleiben, die Pfeife im Mund und meinen Koffer in der Hand. Mein Blick
wandert über den Vorplatz, während meine Reisegefährten eilig im Dunkel der
Nachbarstraßen verschwinden. Zu meiner Zeit war der Vorplatz die Spitze eines
V, das von zwei Boulevards gebildet wurde. Daran hat sich nichts geändert. Die
Bäume, die den Platz schmücken, heben sich von dem Sternenhimmel ab und
rauschen sanft in dem angenehmen Maiwind. Die Luft ist mit sämtlichen Düften
Südfrankreichs geschwängert. Ein hübscher Kontrast zu dem Nieselregen, der mich
vor ein paar Stunden noch in Paris geärgert hat. Vor mir erstreckt sich die Rue
Maguelonne bis hin zur Place de la Comédie, deren Lichter ich von hier aus
sehen kann.
    Mit ihren modernen, grell beleuchteten
Bistros und den noch immer vollbesetzten Terrassen, mit ihrer Neonreklame und
der langen Reihe am Straßenrand geparkter Autos, macht meine Geburtsstadt einen
viel belebteren Eindruck auf mich als beim letzten Mal. Damals stand ich an
genau derselben Stelle und verabschiedete mich von ihr... Das ist nun schon
verdammt lange her! So lange, daß ich das Gefühl habe, in einer unbekannten
Welt gelandet zu sein.
    Zur Begrüßung des verlorenen Sohnes
summt eine Stechmücke, die sich zu benehmen weiß, an meinem Ohr, um sich dann
für den traditionellen Begrüßungskuß auf meiner Wange niederzulassen. Mit einer
gut gezielten Backpfeife zerquetsche ich das Tierchen. Dem Blut an meinen
Fingern nach zu urteilen, muß es wohl den lieben langen Tag über fleißig
gesaugt haben.
    Ich wische mir mit dem Taschentuch
Hand und Wange ab, schüttle das Gewicht aufkommender Wehmut von meinen
Schultern und halte nach dem Wagen des Littoral-Palace Ausschau.
Schließlich entdecke ich ihn zwischen den Autos, die direkt vor der
Bahnhofstreppe parken. Der Name des Hotels steht in eleganter gelber Schrift
auf der Wagentür. Der Chauffeur, ein älterer Mann mit betreßter Schirmmütze,
hält neben der Motorhaube Wache. Er spielt schon mit dem Gedanken, die Warterei
aufzugeben, da sich weit und breit kein potentieller Hotelgast zu zeigen
scheint. Ich winke ihm zu, gehe die Treppe hinunter und reiche ihm meinen
Koffer.
    „Guten Abend“, sage ich. „Hier gibt’s
immer noch so viele Mücken, was?“
    „Sagen Sie so was nicht“, lacht er und
nimmt mir mein Gepäck ab. „Seit man sie mit Hubschraubern jagt, sind es schon
weniger geworden. Die Piloten schaffen ‘ne halbe Million pro Tag. Allerdings
gibt es noch ‘n paar Milliarden, aber die sind nicht blutrünstig.“
    „Ach! Und warum nicht?“
    „Anscheinend stechen nur die
Weibchen.“
    „Und die Hubschrauber haben sich auf
sie spezialisiert?“
    „Genau!“
    „Wahrscheinlich erkennt man sie an
ihren schönen blauen Augen, oder?“
    Er lacht.
    „Nein. An ihren blonden Zöpfen.“
    „Aha, wir sind also ganz besonders
gewitzte Schlauberger, was?“
    „Tja“, seufzt er, „Schlauberger gibt
es hier mehr als genug, seit dem Krieg.“
    Während wir noch so daherreden, setze
ich mich in den Wagen, der gewitzte Chauffeur klemmt sich hinters Steuer und
fährt los.
    Der Nachtportier an der Rezeption in
der Hotelhalle scheint nur noch auf mich gewartet zu haben, um sich sofort
danach in die Falle zu hauen. Als ich die Halle betrete, reißt er gerade seinen
Mund weit auf, bedeckt ihn aber schnell mit der Hand, um das gähnende Loch zu
verbergen. Die fortgeschrittene Stunde zeigt Wirkungen. Über der Mahagonitheke
hängt eine Lampe mit schwacher Birne.
    „Guten Abend, Monsieur“, sagt der
Portier, nachdem er seine Kinnladen wieder in Sprechposition gebracht und aus
seinem persönlichen Repertoire ein Lächeln herausgesucht hat, das ihm schon
häufig sehr nützlich gewesen ist und sich noch rund zehn Minuten auf seinem
Gesicht halten wird.
    „Guten Abend“, erwidere ich seinen
Gruß. „Mein Name ist Nestor Burma. Ich habe heute nachmittag aus Paris
angerufen und ein Zimmer reservieren lassen.“
    „Sehr wohl, Monsieur.“
    Er wirft mir einen halbwegs
interessierten Blick zu, bringt dann die müden Flügel seiner Fliege auf
Vordermann und sieht in seinem Buch mit
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