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Wenn Es Dunkel Wird

Wenn Es Dunkel Wird

Titel: Wenn Es Dunkel Wird
Autoren: Manuela Martini
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fühlt sich heiß an von der Sonne, die sie den Tag über gespeichert hat. Tammy schläft nebenan, er glaubt, ihre Atemgeräusche durchs offene Fenster zu hören, aber eigentlich kann es nicht sein, denn sie schläft ganz still und ruhig. Aber dennoch spürt er ihr Atmen in sich, als wäre sie ein Teil von ihm. Er atmet schwer.
    Es ist still bis auf die Geräusche aus dem Garten, die Zikaden, hin und wieder ein Vogelruf, Blätterrascheln und von ganz in der Ferne klingt das gleichmäßige Rauschen des Meeres heran. An den Schriftsteller muss er immer wieder denken. Paige hieß er, oder? Henry Paige.
    Er ist einfach aus seinem Leben ausgestiegen. Julian überlegt.
    Man könnte Zeugnisse fälschen, sich den Pass aus einem halbwegs zivilisierten Land besorgen, Kreditkarten klauen – wahrscheinlich ist es gar nicht so schwierig.
    Julian hat auf einmal das Gefühl, als würde ein anderes, weniger quälendes Leben da draußen auf ihn warten, aber er bringt es nicht fertig, die Tür aufzumachen und alles hinter sich zu lassen.
    Er hat sich so auf diese Tage in der Villa gefreut, doch jetzt sehnt er sich nach seinen Kumpels, mit denen er feiern und trinken und Sport bis zum Umkippen machen kann, um irgendetwas da drin in sich nicht mehr zu spüren, irgendetwas, das mit Tammy zu tun hat.

5
    Am nächsten Nachmittag:
    »Überraschung!«, gellt es in Julians Ohr und reflexhaft reißt er die Augen auf.
    »He, du Penner, wuchte deinen Hintern aus dem Bett, sie sind da!« Tammy steht in der Tür und schneidet eine Grimasse. »So früh!«, bringt er schlaftrunken hervor und begreift erst dann, dass es nicht Morgen, sondern Nachmittag ist.
    Tammy rollt die Augen: »Das ist ja eine Tussi.«
    »Wer?«
    »Na, die Freundin von Claas.«
    »Mel?«
    »Ich hoffe, diese Mel zickt nicht rum.«
    Jetzt setzt er sich auf. Streckt seine Hand nach ihrem Haar aus, das ihr übers Gesicht fällt, doch da hat sie die Strähne schon selbst hinters Ohr zurückgestrichen und er hält inne, ernüchtert.
    »Mach also«, sagt sie, »ich hab keine Lust, sie allein an der Backe zu haben.« Bevor er noch etwas Beschwichtigendes sagen kann, hat sie sich schon umgedreht und die Tür offen gelassen.
    Er schüttelt den Kopf, um seine Haare aufzulockern, zieht T-Shirt und Shorts an und geht barfuß über die Steinfliesen aus seinem Zimmer den Stimmen entgegen.
    So weit meine Vorstellungen. Von da an war ich dabei.
    Das Videobild friert ein.
    Der nächste Teil beginnt.
    Die Perspektive hat sich verändert. Sie ist wohl aufgestanden und sitzt ein wenig weiter links. Im Hintergrund kann man jetzt ein Stück einer Bücherwand sehen. Ein Buchrücken reiht sich an den anderen und das Regal reicht bis zur Decke.
    Mit der inzwischen vertrauten Geste streicht sie sich das Haar zurück. Sie blickt in die Kamera, ohne etwas zu sagen. Als warte sie darauf, dass jemand da im Netz zu ihr sprechen würde.
    Okay, es geht weiter. Diese ersten Minuten in der Villa! Ich hätte am besten auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre mit dem Taxi wieder in den Ort zurückgefahren.
    Höre auf deine Gefühle, denn sie sind die Sprache deiner Seele, hat meine Großmutter immer gesagt. Ich hätte auf meine Gefühle hören sollen.
    Hab ich aber nicht.
    Ich bin dageblieben.
    Wenn ich gewusst hätte, dass es so einfach gewesen wäre, mich zu retten, vielleicht nicht nur mich, auch die anderen …
    Auf das Hupen des Taxifahrers tauchte in der Lücke der undurchlässigen Zypressenhecke Tammy auf und öffnete das Gartentor.
    Ich spürte sofort, dass sie mich blitzschnell taxierte und zu dem Ergebnis kam: keine Konkurrenz.
    Ich wiederum kam zu dem Ergebnis: egozentrisch, rücksichtslos – und ziemlich schön. Sie war es gewöhnt, sofort beachtet zu werden – ohne etwas dafür tun zu müssen – und hatte in der Schule sicher eine Menge Anbeterinnen, die hofften, dass für sie ein paar Jungs abfielen, die sich umsonst um Tammy bemühten. Ich war neidisch. Okay, ich geb’s zu.
    Wir lächelten uns falsch an.
    Claas rief: »Du musst Tammy sein!«
    Sie kannten sich nicht, denn während er im Haus der Wagners Julian Nachhilfe gab und öfter eingeladen wurde, war Tammy zum Schüleraustausch in den USA gewesen.
    Ihr Lächeln konnte Claas vielleicht täuschen, mich aber nicht. Sie fand ihn uninteressant. Und wahrscheinlich sah sie keinen besonderen Sinn darin, sich mit ihm – mit uns – abzugeben.
    »Das ist Mel«, stellte mich Claas vor. »Und ich bin Claas.« Er wollte ihr, glaube ich, auch die Hand
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