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Wenn du mich brauchst

Wenn du mich brauchst

Titel: Wenn du mich brauchst
Autoren: Jana Frey
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Geist hängen geblieben waren. Die Nazis hatten seinen Verstand für immer zerstört, aber dennoch schien er zu spüren, wie schlimm es um Esther stand. Und dann war das Baby plötzlich da. Und drei Tage später wurde Auschwitz befreit. Es war der siebenundzwanzigste Januar und Esther war frei. Während um sie herum immer noch die Menschen starben, verließ sie mit dem winzigen Säugling auf dem Arm das Vernichtungslager. Sie hatte überlebt. Diesen letzten Teil der Geschichte kannte ich. Er gehörte zu dem wenigen, was Esther uns aus dieser Zeit preisgegeben hatte.
    »Aber es starb«, sagte Esther gerade und auf einmal war es totenstill in unserem sonnigen Wohnzimmer. »Ich weiß nicht, warum es nicht leben konnte oder wollte, es sah gesund aus – aber dennoch starb es. Vielleicht hatte die Geburt zu lange gedauert, vielleicht gab es andere Gründe. Die Vergewaltigungen bei meiner Ankunft, der Schmutz überall, die vielen Infektionen um mich herum …«
    »Mutter, was redest du da?«, flüsterte meine Großmutter, die blass geworden war, und beugte sich nach vorn. »Ist dir nicht gut?«
    Esther machte schmale Lippen und gab keine Antwort.
    »Sie ist verwirrt«, fuhr Sarah fort und erhob sich besorgt. »Vielleicht ist es doch ein Schlaganfall. Oder Demenz, Alzheimer. Sie vergisst ihre … eigene Geschichte!«
    Esther fuhr auf. »Ich vergesse gar nichts!«, fuhr sie ihre Tochter an. »Rede keinen Unsinn!«
    »Aber Mutter …«, sagte meine Großmutter und warf meinen Eltern einen verwirrten, hilflosen Blick zu.
    »Er war tot. Und dann kam der Befreiungstag. Und ich verließ alleine das Lager. Niemand hielt mich auf. Ich ging einfach davon«, fuhr Esther fort und schaute uns diesmal alle der Reihe nach an.
    Meine Großmutter stand verloren im Wohnzimmer. Godot, zu Skys Füßen, hechelte laut und unpassend.
    Mein Großvater legte schließlich den Arm um seine Frau und zog sie zurück an seine Seite.
    »Ich ging und ging, wie in Trance. Und ich hätte die Welt am liebsten in Stücke gehauen. Der Himmel war wie immer, die Vögel sangen wie immer, der Schnee unter meinen Füßen knirschte, wie Schnee eben knirscht. Wie war das möglich? Meine Welt war zerstört, aber die restliche Welt war, verdammt noch mal, verschont geblieben«, erzählte Esther ungerührt weiter. »Bin ich schnell genug?«, unterbrach sie sich plötzlich selbst mit einem fast sarkastischen Seitenblick auf meine Großmutter. Dieser Blick erinnerte an die Esther, die ich kannte, und fast hätte ich aufgeatmet.
    »Ich hatte wahnsinnigen Hunger«, fuhr meine Urgroßmutter fort. »Und Unterleibskrämpfe. Und meine gottverdammten Füße bluteten. Und nicht nur meine Füße. Irgendwann konnte ich nicht mehr weiter. Ich erreichte ein kleines, unscheinbares Dorf. Und dort traf ich sie – Annegret.«
    David und ich tauschten einen kurzen, fast erleichterten Blick.
    »Annegret lag in den Wehen. Sie war alleine. Und sie weinte vor Erschöpfung und Angst. Irgendetwas stimmte nicht mit ihrer Niederkunft. Das Kind schien falsch zu liegen. Annegrets Mann war ein deutscher Soldat und seit Monaten an der Front vermisst. Das alles erzählte sie mir. Ihre Mutter war kürzlich verstorben. Sonst war niemand mehr da. Ich blieb bei ihr, die ganze Nacht. Ich half ihr, so gut es ging. Ich beherzigte die Tipps, die die kleine Hebamme mir gegeben hatte, aber es ging dennoch nicht sehr gut. Annegret war genauso alt wie ich. Und wie ich bekam sie ihr erstes Kind. Und wie ich war sie alleine. Als der Morgen dämmerte, war das Baby endlich geboren. Aber Annegret war gestorben.«
    »Nein …«, flüsterte meine Großmutter.
    »Doch«, sagte Esther trotzig und hob den Kopf. »Hätte ich es liegen lassen sollen? Hätte ich es verhungern lassen sollen? Sag, hätte ich das tun sollen?«
    »Es … es war ein Kind von Nazis. Ein – Nazikind«, flüsterte meine Großmutter heiser. »Das hast du selbst gesagt, Mutter. Die Frau war Deutsche. Ihr Mann war deutscher Soldat.«
    »Das war mir egal«, fuhr Esther sie an. »Es war ein Baby. Annegret war freundlich. Nicht böse. Und das Kind war – hilflos, alleine. – Du warst dieses Kind! Und darum nahm ich dich mit. – So und jetzt genug davon. Einmal musstet ihr es erfahren. Ich hätte es längst erzählen sollen.« Esther erhob sich brüsk und ging davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.
    »Ihr ganzes Leben – nichts als eine große Lüge«, murmelte David entsetzt, als die Tür hinter ihr zuklappte. »Und wir alle? Habt ihr mal zwei und
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