Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter
Autoren: Peter Schneider
Vom Netzwerk:
1
    Auf den Fotos, den schwarz-weißen mit dem gezackten Rand, ist meine Mutter fast nicht zu erkennen. Jedenfalls nicht die Mutter, die ich in Erinnerung habe – eine sanfte und beschützende, manchmal tieftraurige, dann wieder unbeherrschte Urgewalt. Auf den Fotos ist eine junge schmale Person zu sehen in einfachen, meist selbst geschneiderten Kleidern, die die Taille und die Brust betonen; das nackenlange Haar dunkelblond, aus der Stirn gekämmt; die schmalen Lippen geschlossen, manchmal leicht, wie zum Atmen, halb offen; selten zeigt sie sich lachend, schon gar nicht mit jenem vom Fotografen verlangten Lachen, das die Kriegsgeneration sich auch unter den schlimmsten Umständen abringen zu müssen meinte, sodass in den Fotoalben aus jener Zeit Millionen von grundlos lachenden Familienangehörigen aufbewahrt sind. Auf den Fotos sehe ich eine junge ernste Frau, die nichts vorzugeben und nichts zu verheimlichen scheint. Das Leuchten, das nach dem Zeugnis ihrer Verehrer von ihr ausging, hat keinen Fotografen gefunden. Falls sie im Kreis der Freunde wirklich so etwas wie ein Star war, ein Licht, eine strahlende Erscheinung, so war die Darstellung dieser Rolle auf ein anderes Mittel angewiesen als auf die Fotografie.
    Jahrzehntelanggehörte ein Schuhkarton zu meinen Sachen, den ich bei allen Umzügen mitnahm. Er enthielt Briefe meiner Mutter – Briefe, die sie in Sütterlinschrift mit Bleistift oder Tinte auf weißes oder gelbes Papier geschrieben hatte, öfter auf Seiten im DIN - A 5-Format, die sie vielleicht aus einem Schul- oder Notizheft herausgerissen hatte.
    Hin und wieder vermisste ich den Karton, weil ich ihn jahrelang nicht mehr gesehen hatte. Dann suchte ich ihn in einem Anfall undeutlicher Verlustangst und konnte ihn nicht finden. Wenn er beim nächsten Umzug wieder auftauchte, überkam mich eine Erleichterung, als hätte ich etwas für mich unendlich Wichtiges wieder entdeckt, und ich machte mich daran, den einen oder anderen Brief zu lesen. Aber es gelang mir nie, mehr als ein paar Halbsätze zu entziffern. Wie bei früheren Versuchen gab ich wieder auf – schwer zu sagen, ob es die Scheu vor den Mühen des Lesens war, die den Reflex des Aufschiebens hervorrief, oder die Furcht vor Entdeckungen, von denen ich lieber nichts wissen wollte. Mir gefiel das Motto, dem Bob Dylan gefolgt war: »Don’t look back!« Erfinde dich selbst, entferne dich von allen Bindungen, die du nicht selbst gewählt hast, besonders aber von dem Teil der Vergangenheit, den du nicht bestimmen konntest – von deiner Kindheit!
    Eine alte Freundin, die von den Briefen wusste, hatte mir einen Rat gegeben, der mich beschäftigte: Am besten verfahre man mit den Briefen der Eltern, soweit sie nicht an einen selbst gerichtet seien, wenn man sieungelesen in eine volle Badewanne werfe. Der Satz passte zu dem Misstrauen, das die »Generation der Nachgeborenen« gegen ihre Eltern entwickelt hatte, und er passte zu meinem Projekt der Selbsterfindung. Gleichzeitig schien mir eine derartige Aktion zu dramatisch und nicht recht effizient zu sein. Wie verfährt man mit Briefen, deren Schrift sich nicht in Wasser auflöst, weil sie mit Bleistift geschrieben sind? Bleistift ist haltbarer als Tinte.
    Was mich schließlich dazu brachte, die Briefe endlich zu entziffern, war der Umstand, dass ich nach einem dreißigjährigen Familienleben und dem Auszug der Kinder die gemeinsame Wohnung verlassen hatte und mit dem Schuhkarton allein war. Ich führte endlose Selbstgespräche mit der Adressatin meiner gescheiterten Liebe, ich suchte nach Erklärungen und fand jeden Tag eine andere, die doch nichts erklärte – plötzlich wollte ich wissen, was in den Briefen meiner Mutter stand.
    Ich begann damit, die oft undatierten Briefe nach dem Datum des Poststempels zu ordnen, soweit die Briefumschläge noch vorhanden waren. Ich fotokopierte und vergrößerte sie in der Hoffnung, die mit fliegender Hand aufs Papier geworfene Schrift auf diese Weise zu entschlüsseln. Ich lud aus dem Internet eine Umschrift des Sütterlin-Alphabets herunter, konnte jedoch nur einige Buchstaben der Musterschrift in der Handschrift meiner Mutter wiedererkennen. Unter die Wörter und Halbsätze, die ich entziffert hatte, notierte ichmeine Übersetzungen. Aber nun, nachdem ich damit begonnen hatte, ließen mir die unlesbaren Passagen zwischen den Wörtern keine Ruhe, sie schienen etwas zu sagen, das dringend nach Entzifferung verlangte. Die alte Ungeduld und Unlust, mich mit den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher