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Wenn du mich brauchst

Wenn du mich brauchst

Titel: Wenn du mich brauchst
Autoren: Jana Frey
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Gras beiße …«, fing Esther mit starrer Miene an.
    »Mutter!«, rief Sarah erschrocken. »Was sagst du denn da?«
    »Doch, doch, ich bin ein wandelnder Anachronismus, wie David immer sagt. Ein Urgestein, allmählich wird es Zeit für mich zu gehen.«
    Und dann folgte Esthers Geschichte.
    1944 war Esther nach Auschwitz gekommen. Als sogenannter Neuzugang musste sie ihre letzten verbliebenen Privatsachen abgeben. Sie wurde inmitten einer Masse anderer Menschen geduscht, geschoren, fotografiert und registriert. Zwei Aufseher, die für die Neuzugänge zuständig waren, vergewaltigten sie unter Johlen, als sie sahen, dass Esther schwanger war. Wie alle anderen bekam sie anschließend eine Nummernserie auf den linken Unterarm eintätowiert. Hinterher erhielt sie dreckige, abgetragene Zivilkleidung, da es an KZ-Häftlingskleidung längst mangelte.
    »Es war eine zerschlissene Männerhose und ein weites, zerrissenes Hemd. Unterwäsche und Schuhe bekam ich keine«, sagte Esther mit unbewegter Miene.
    Wo war heute ihre Wut? Ihr Zorn? David und ich tauschten einen besorgten Blick.
    »Das … Baby in meinem Bauch wurde dennoch mit jedem Tag munterer«, fuhr Esther fort. Ich hörte meine Großmutter nervös atmen. Eine Träne lief ihr über das Gesicht und ich sah, wie mein Großvater den Arm um sie legte.
    »Eine junge Frau, die ausgemergelt von Durchfall und Fleckfieber war, erklärte mir, sie sei in der normalen Welt Hebamme gewesen, und befühlte meinen unruhigen Bauch«, fuhr Esther mit zusammengekniffenen Augen fort. ›Es tanzt‹, sagte sie. ›Sicher ein Mädchen.‹ Sie lächelte mir zu. ›Tanzen ist gehüpftes Glück‹, flüsterte sie mir zu und es kam mir verrückt vor, dass sie hier, an diesem Ort, von Glück reden konnte. – Und obwohl wir beide sicher waren, dass wir sterben würden, gab sie mir Ratschläge für die Geburt.
    ›Wer weiß?‹, sagte sie. ›Ich meine zu spüren, dass du überleben wirst …‹ Sie selbst war die Frau eines Widerstandskämpfers gewesen, und das war ihr Verhängnis.«
    Sky saß lauschend neben mir.
    Ob diese Frau vielleicht Annegret gewesen war? So wie heute hatte Esther uns noch nie an ihrer Zeit in Auschwitz teilhaben lassen. – Warum tat sie es ausgerechnet jetzt? Was wollte sie berichtigen, wie sie es genannt hatte?
    »Ein paar Tage später war die Frau tatsächlich tot«, fuhr Esther fort. »Ihr – Körper lag eine ganze Woche lang weiter bei uns in der Baracke, ehe wir die Erlaubnis erhielten, die Baracke zu verlassen und ihn fortzuschaffen. Hätten wir es dennoch getan, wären wir sofort erschossen worden. Der Gestank war kaum auszuhalten und das Ungeziefer, das sowieso überall war, vermehrte sich explosionsartig. Die Kakerlaken krabbelten unermüdlich über uns. Und es gab Flöhe und Maden und Schmeißfliegen und gewöhnliche Fliegen und noch viel mehr. Die kleine Frau wurde förmlich aufgefressen …«
    »Mutter, warum erzählst du das heute alles?«, fragte meine Großmutter aufgebracht. »Ich glaube nicht, dass Sky das alles wissen muss. Und wir …«
    »Gut, ich kürze ab«, sagte Esther bissig.
    »Mitte Januar begannen die Nazis, das Vernichtungslager allmählich zu räumen. In sogenannten Todesmärschen wurden Tausende Inhaftierte in offenen Güterwaggons oder auch zu Fuß in Richtung Westen abtransportiert.
    Zurück blieben nur die, die zu schwach oder zu krank zum Laufen waren. Die meisten von ihnen wurden erschossen, nur kleine, elende Grüppchen überließ man so ihrem Schicksal.« Esther biss sichtlich die Zähne zusammen. »In einem dieser Grüppchen war ich.«
    Sie knetete ihre alten, pergamentenen Finger und schaute keinen von uns an.
    »Wir ahnten alle, dass die Russen auf dem Vormarsch waren und dass das der Grund war, warum die Nazis das sinkende Schiff verließen.«
    Chajm hatte meine Hand genommen und drückte sie aufmunternd. Ich sah, dass meine Mutter es sah, aber sie sagte nichts.
    »Und dann kam der vierundzwanzigste Januar«, fuhr Esther fort. »Und mit ihm das Baby. Jakob Mandelbaums Baby. Mein Baby.«
    Ich kannte diesen Teil der Geschichte. Esther verlor viel Blut. Sie weinte stundenlang auf dem gefrorenen Lehmboden der Hütte. Keiner konnte ihr helfen. Nur ein ehemaliger jüdischer Universitätsprofessor, dem die Nazis beide Augen zerstört und den Unterkiefer zerschlagen hatten, stand ihr zur Seite. Er blieb an ihrer Seite, hielt ihre Hand und summte, da er nicht mehr sprechen konnte, Liedfragmente für sie, die noch in seinem verwirrten
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