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Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr
Autoren: Karl-Otto Hondrich
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schrumpfende Gesellschaft.
    Moderne Gesellschaft ist kein großer Klumpen von Menschen oder Beziehungen. Jahrhundertelang hat sie daran gefeilt, sich selbst in Beziehungssphären aufzugliedern. Was wir heute Weltgesellschaft nennen, ist, quasi in der Breite, aufgegliedert in Nationen und Kulturen. Diese territoriale oder regionale Gliederung der sozialen Welt wird zwar an zahllosen Stellen übersprungen: Teile einer Kultur oder Nation bewegen sich in andere kulturelle und nationale Territorien und umgekehrt. Dies fällt alltäglich ins Auge, wenn Waren, Waffen, Werte, Wanderer zwischen den Kulturen die Grenzen überschreiten. Auch Familien mit ihren Kindern sind solche Grenzüberschreiter. Dies darf jedoch nicht zu der unsinnigen Annahme verführen, territoriale Grenzen würden unwichtig. Das Gegenteil ist der Fall. Auch für die Zukunft gilt: Ohne national- und bündnispolitische Grenzen ließen sich bestimmte Probleme gar nicht eingrenzen und bearbeiten. Eine |25| Weltgesellschaft mit sieben Milliarden Menschen verschiedenster Kulturen und Entwicklungsstandards wäre ohne territoriale Grenzen nicht überlebensfähig. Sie würde in Entropie versinken, das heißt, in allgemeiner Vermischung untergehen.
    Die zweite Dimension, in der sich die soziale Welt im Inneren aufgliedert und reguliert, ist die nach Aufgaben oder Funktionen. Aus der wirtschaftlichen Arbeitsteilung wissen wir, spätestens seit Adam Smith, dass die Spezialisierung der Arbeit in verschiedene Teilaufgaben die Effektivität steigert. Spezialisten schließen sich zu einem arbeitsteiligen System oder einer Gruppe zusammen und verbessern dabei ihre speziellen Fähigkeiten. Das Verhältnis von Aufwand zu Ertrag in einer bestimmten Zeitspanne wird günstiger.
    Wir nennen dies Produktivitätssteigerung der Arbeit oder Wirtschaftlichkeit. Wirtschaftlichkeit ist der Leitwert der Wirtschaft. Alle sozialen Beziehungen und Institutionen, die sich vorwiegend an diesem Leitwert orientieren, werden der Lebenssphäre oder dem funktionalen Teilsystem der Wirtschaft zugerechnet. So wie die Wirtschaft existieren unzählige andere Lebenssphären, die jeweils um ihren Leitwert kreisen; außerdem gibt es Leitwerte, die um sich herum Lebenskreise ausbilden: Der gemeinsame Glaube an einen Gott oder außerweltliche Kräfte ist der Leitwert der Religion; die Suche nach methodisch prüfbarer (und verwerfbarer) Wahrheit bildet den Leitwert der Wissenschaft, die Steigerung körperlicher oder geistiger Leistungen im Wettkampf den Leitwert des Sports. So, wie die Wirtschaft um den Leitwert der Produktivität kreist, stellt das System der sozialen Sicherung die Sicherheit in den Mittelpunkt, die Familie die Liebe, die Kultur die Erhaltung der gewohnten Lebenswerte insgesamt; die Politik kreist um die Durchsetzung allgemeiner Ziele, notfalls mit dem Mittel legitimer Gewalt.
    In jedem dieser Sozialsysteme sind wir als Menschen vertreten. Allerdings nicht als ganze Menschen, sondern nur jeweils mit einem Teil unserer Person. Niemand ist nur politischer Mensch, |26| auch die Kanzlerin nicht. Sie agiert in der Politik als Trägerin einer politischen Rolle. Was sie in anderen Rollen tut, etwa als Konsumentin, Ehefrau, Christin, enthält sie mit Fug und Recht der politischen Öffentlichkeit vor. In jedem einzelnen System haben wir entweder aktive oder, mit vielen Übergängen, passive Rollen. Kanzlerin zu sein gehört zu den sehr aktiven Rollen (»Die mächtigste Frau in Deutschland«). Diejenigen, die sich um Politik gar nicht kümmern oder nur darüber schimpfen, gehören gleichwohl auch in dieser Eigenschaft zum politischen System. Auch am System der Familie nehmen nicht nur die teil, die eine Familie aktiv gegründet haben, sondern auch diejenigen, die davon nichts wissen wollen; sie haben zumindest eine Herkunftsfamilie oder hängen auf andere Weise mit »der Familie« schlechthin zusammen.
    Jede Lebenssphäre sorgt für sich selbst – und nimmt dabei von den anderen, was sie benötigt. Da das Nehmen und Geben gegenseitig ist, kann man von einem Austausch sprechen, auch wenn Vorstellungen von einem »gerechten« Ausgleich dabei wohl eher enttäuscht werden. Man mag es stattdessen auch als Kampf und Konkurrenz bezeichnen. Die Wirtschaft nimmt sich Arbeitskräfte und Abnehmer aus den Familien und gibt dafür Geld (Löhne und Kapitalzinsen) und Güter. Wenn Familien wenige Kinder haben, hält sich die Wirtschaft auf andere Weise schadlos, etwa an den Doppelverdienern – also
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