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Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr
Autoren: Karl-Otto Hondrich
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Fähigkeit sozialer Systeme, bestimmte Aufgaben und Probleme zu lösen. Die demografische Stabilisierung |29| ist gebunden an die Zahl der Menschen; doch abgesehen von wenigen Sonderfällen – einen Baumstamm aus dem Weg zu räumen, ein verschollenes Kind zu suchen, einem zahlenmäßig überlegenen Gegner die Stirn zu bieten – ist die Menge aber in keiner Weise problemlösend.
    Die soziokulturelle Entwicklung hat sie allerdings inzwischen für die genannten Beispiele überflüssig gemacht: Ein Baum lässt sich leichter mit einem Kran aus dem Weg räumen; nach einem vermissten Kind forscht man mit elektronischen und optischen Suchgeräten, wenn nicht gentechnologisch der Speichel des vermuteten Täters herangezogen wird; dem in großer Zahl anrückenden Gegner kann man mit Ortungsgeräten und modernen Vernichtungswaffen entgegentreten.
    Und außerdem: Was demografische Stabilität heißen soll, ist nicht geklärt. Demografische Stabilität als Normalität gibt es nicht. Bewegungen in der Bevölkerungsstruktur sind ebenso normal wie die geophysikalischen und geografischen Bewegungen (tektonische Verschiebungen und Beben, Fluten und Wirbelstürme) der Erde. Von Letzterem unterscheiden sie sich nur dadurch, dass sie in kürzeren Zeiträumen ablaufen – statt in 20 000 etwa in 200 oder 20 Jahren – und dass sie nicht durch die Kräfte der Natur, sondern durch soziale Kräfte ausgelöst werden. Natur und soziale Kräfte haben allerdings gemeinsam, dass sie von einem einzelnen Menschen – sei er als Staatsmann, Kirchenfürst oder Wirtschaftsboss noch so mächtig – nicht beherrschbar sind. Sie laufen ohne und gegen seinen Willen ab. In die sozialen Kräfte gehen zwar die Willen der einzelnen Menschen ein, aber jeder Einzelne wieder nur zu einem so kleinen Anteil und mit so großen Gegenkräften aus verschiedenen Richtungen, dass der individuelle Wille dem sozialen Prozess hoffnungslos unterlegen ist.
    Während der Mensch gegenüber demografischen Bewegungen machtlos ist – die sozialen Systeme, als Funktionsordnungen und als territoriale Ordnungen, allerdings sind es nicht. Sie haben die Kraft der Selbststeuerung – darin zwar durch die anderen System |30| eingeschränkt, aber sie können doch jeweils eine erhebliche Eigenmacht entwickeln. Mittels dieser Macht werden sie sich nicht nur von demografischen Größen wie Geburten- und Sterberaten und Migrationen weitgehend unabhängig herausbilden. Sie sind auch selbst, besonders im Zusammen- und Gegenspiel, Auslöser demografischer Veränderung. Eine Wirtschaft etwa, die Menschen durch Maschinen-, Wissens- und Organisationskapital ersetzt, braucht zwar immer noch – hochqualifizierte – Arbeit und damit Menschen. Sie braucht aber weniger. Und nicht zwingend solche, die hierzulande geboren sind.
    Dass diese Wirtschaft schrumpft hinsichtlich der Zahl der Menschen, die in ihr beschäftigt sind, bedeutet, dass deren Arbeitsproduktivität steigt. Schrumpfen ist für Unternehmen eine Chance, ihrem Leitwert der Wirtschaftlichkeit – und der ist nicht identisch mit Profitsucht – näher zu kommen. Dass die Wirtschaft ihr Schrumpfungsprogramm an andere Lebenssphären wie Familie und soziale Sicherung weitergibt – oder es zum Teil von dort erhält – bedeutet für diese ebenfalls eine Chance und nicht Schwächung. Es stellt aber alle Systeme unter immer neuen Stabilisierungsdruck. Auch dies heißt: nicht Scheitern, sondern Chance.
    In den folgenden Kapiteln wird dies nicht nur an der Wirtschaft, sondern auch anhand des Systems der sozialen Sicherung, der Familie, der Kultur und der Politik betrachtet. Natürlich ließe sich die Darstellung auf viele andere Lebenssphären erweitern. Die Frage bliebe immer dieselbe: Wie stabilisieren sich, ja steigern die Systeme ihre Problemlösungsfähigkeit trotz weniger Menschen und trotz des Falls der Geburtenrate? Wie arbeiten sie auf diesen Fall sogar noch hin?
    Für wirtschaftliche Organisationen – und nicht nur für diese – bedeutet Wachstum durch eine größere Zahl von Mitarbeitern, dass auch die Zahl derjenigen steigt, die weniger engagiert, weniger motiviert, weniger qualifiziert sind. Die Qualität der Organisation geht zurück, mit der Schnelligkeit des Wachstums und der Ausweitung der Aufgaben verwässert sich ihr innerster |31| Sinn. Ihre Leitwerte werden unklar und nicht mehr von allen getragen. In der Schrumpfung kann sich dieser Prozess umkehren. Verringerung und Spezialisierung von Aufgaben,
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