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Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr
Autoren: Karl-Otto Hondrich
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also
funktionale
Differenzierung
, ist der Mechanismus, aufgrund dessen weniger Menschen mehr leisten.
    Hinzu kommt der Mechanismus der
territorialen Expansion
. Vieles von dem, was scheinbar schrumpft und schwindet, hört nicht auf zu existieren und wird auch nicht kleiner, sondern im Gegenteil: Es wächst und dehnt sich aus – und zwar über die Grenzen hinaus, die unser Blickfeld gewöhnlich einengen. Industrieunternehmen und -städte in Mitteleuropa, besonders augenfällig in Ostdeutschland, werden kleiner, tauchen aber umso größer wieder auf in Ostasien, in der Türkei, in Südamerika. Für diejenigen, die hierzulande ihren Arbeitsplatz verlieren, ist das wenig tröstlich. An ihrer Stelle werden nun andere, aus tiefer Armut, in den Expansionsprozess der Weltwirtschaft hineingezogen. Es ist nicht zynisch gesprochen, wenn man dabei eine Art global ausgleichende Gerechtigkeit am Werke sieht, die allerdings niemand so recht steuert. Keine moralische Instanz, wie etwa die Caritas, die Welthungerhilfe, die Institutionen der Entwicklungshilfe, hat die Hand im Spiel, nicht einmal die Weltbank mit ihren durchaus humanitären Anwandlungen. Wer hier für mehr Gerechtigkeit sorgt – natürlich nicht in einem absoluten Sinne –, ist allein der Markt. Das Schrumpfen und Verlagern der Industrie aus ihren europäischen Stammländern birgt für die Menschen hierzulande allerdings die Chance, über innovative Produkte auf dem Weltmarkt existent zu bleiben und von ihm über Billigangebote zu profitieren.
    Aber wie sollen die Systeme sozialer Sicherung, die ja überall national – zum Teil noch familial – organisiert sind, für Krankheit, Alter und anderes vorsorgen, wenn es durch den Rückgang der Geburtenrate immer weniger Junge gibt, um die Altenlast zu tragen?
    Allerdings: Es sind nicht die Jungen, die die Alten versorgen; |32| es sind die Leistungsträger der mittleren Jahre. Sie haben, sofern mehr Kinder geboren würden, zusätzlich zu den Alten und Arbeitslosen auch mehr Junge zu finanzieren und auszubilden. Die Eltern müssten höhere Versicherungsprämien zahlen, die Bürger mehr Steuern. So können sich soziale Sicherungssysteme auch stabilisieren. Sie suchen aber noch elegantere Problemlösungen.
    Eine davon führt zurück in das System der Wirtschaft. Je höher die Produktivität und je höher entsprechend die Löhne steigen, desto mehr kann auch für die Rentner, Kranken, Jugendlichen abgezweigt werden. Das muss immer wieder ausgehandelt werden. Dafür gibt es in den neokooperativen Gesellschaften Mitteleuropas gut eingespielte Institutionen des Interessenausgleichs. Tatsächlich bekommen jetzt alle etwas weniger als vorher. Trotzdem sind Lohn- und Rentenniveau, dank der hohen Produktivität hierzulande, wesentlich höher als in Polen, China, Indien. Die hiesigen Sicherungssysteme können deshalb andernorts billige Dienstleistungen, Pflegerinnen und Ärzte zum Beispiel, einkaufen, ebenso wie günstigere Industriewaren und Lebensmittel.
    Mit anderen Worten: Die Alten und Kranken hierzulande werden relativ gut versorgt, obwohl sie wenig eigene Kinder in die Welt setzen. Auch das System sozialer Sicherung, obwohl es doch national organisiert ist, stabilisiert sich durch Austausch und Arbeitsteilung über nationale Grenzen hinaus. Stabilisieren heißt nicht, dass alle immer gleich viel oder mehr bekommen. Wir Bürger der Industrienationen haben kein verbrieftes Recht darauf, immer älter zu werden, zugleich weniger zu arbeiten und den Wohlstandsvorsprung gegenüber den nachrückenden Gesellschaften zu halten. Allerdings gibt es auch keinen Grund anzunehmen, dass die territoriale Öffnung der Systeme uns schadet. Sie führt allerdings zu neuen Verlustängsten.
    Das lässt sich am System der Kultur zeigen. Wenn die Geburtenrate sinkt, verliert – das ist unsere größte Angst – die Kultur als Inbegriff der uns vertrauten Lebensformen und Leitwerte scheinbar ihre Träger. Hinzu kommen die Ängste, dass andere, kinderreiche |33| Kulturen dem offenen Westen das eigene Terrain streitig machen. Kann die westliche Kultur sich dagegen behaupten? Sie tut es seit langem. Ihre ureigenste Strategie ist die Vorwärtsverteidigung. Diese kommt allerdings auch ohne militärisch-missionarische Anklänge aus. In anderen Kulturen, und zwar weltweit, will man die Waren, das Wissen, die Waffen des Westens aus freien Stücken, weil sie attraktiv sind. Die Werte des Westens, von der Frauenemanzipation über die Liebesehe bis zum
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