Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr
Autoren: Karl-Otto Hondrich
Vom Netzwerk:
erwerbstätige Frauen und Männer in ein und derselben Familie. Sie kann auch die qualifiziertesten Familienmitglieder vorziehen und alle anderen fallen lassen. Sie kann, unter den Bedingungen eines offenen Arbeitsmarktes, Computerspezialisten aus Indien, Krankenschwestern aus Korea, Haushaltsgehilfinnen von den Philippinen, Spargelstecher aus Polen holen. Manche von ihnen gehen wieder, andere bleiben und lassen ihre Kinder nachkommen.
    »Die Wirtschaft«, »die Familie« und fast alle anderen funktionalen Systeme, auch die nationalstaatlichen Kulturen selbst, agieren längst über die Grenzen des Nationalstaats hinaus. Nur |27| unsere Vorstellungswelt ist nationalstaatlich geblieben. Deshalb sprechen wir von »der deutschen Wirtschaft« oder »der deutschen Familie« oder »der deutschen Kultur«. Nicht, dass es diese Dinge nicht gäbe. Es gibt sie sogar mit großer Ausdrücklichkeit, auch für die Zukunft. Nicht, dass man sich nicht zu ihnen bekennen dürfte. Der nationalkonservative Standpunkt ist nicht weniger wertvoll als der internationalistische oder liberale. Es geht nicht darum, einen Internationalismus vorzuschieben oder vorzuziehen, den es ohne nationale Staaten gar nicht geben könnte. Mein Argument ist vielmehr folgendes: Auch derjenige, dem es, vom deutschen Standpunkt aus gesehen, um die Selbststabilisierung deutscher Wirtschaft, deutscher Familie, deutscher Politik, deutscher Kultur geht, wird erkennen müssen, dass dies nicht ohne die Wirtschaften, Familien, Politikbündnisse und Kulturen anderer Gesellschaften möglich ist.
    Seit die soziale Evolution über die Selbststabilisierung von funktionalen Teilsystemen funktioniert, führt derselbe Vorgang zum Austausch oder Ausgleich: zwischen den Lebenssphären ebenso wie zwischen
Territorialgesellschaften
, die sich bislang eher fernstanden. Ein typisches Ausgleichsproblem zwischen funktionalen Teilsystemen ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Viele Menschen, insbesondere Frauen, erleben dies als Konflikt in ihrem Alltag. Ein aktuelles Ausgleichsproblem zwischen Gesellschaften ist die Frage, ob das fest in die NATO einbezogene Deutschland, oder doch zumindest dessen Sicherheit, am Hindukusch verteidigt werden soll. Auch hier spüren wir einen Konflikt zwischen Bündnisinteressen einerseits und einer nationalpolitischen Engfassung deutscher Interessen.
    Die Selbststabilisierung von funktionalen und territorialen Sozialsystemen ist ein komplexer Prozess. Sie umschließt immer auch Gegensteuerung: Die deutsche Gesellschaft ist nicht nur auf das Verteidigungsbündnis NATO angewiesen, sondern steuert ihm auch entgegen. Selbststeuerung als Gegensteuerung über die Grenzen eines Systems hinweg – und damit in andere Systeme |28| hinein – ist aber nicht nur ein Abwehren von äußeren Einflüssen, sondern auch deren Heranziehen und Einbeziehen.
    Dies alles erfolgt mit der unausgesprochenen Absicht, Interessen und Identität, innere Beschaffenheit und Grenzen des jeweils eigenen Systems zu wahren. Die Bewahrung ist aber keine Starre – Interessen, Identität, innere Struktur und äußere Grenzen sind nicht ein für alle Mal festgelegt. Diese Charakteristika soziokultureller Evolution unterliegen vielmehr selbst Veränderungen und stehen zur Disposition. Manchmal müssen ein oder zwei von ihnen sich wandeln, gleichsam geopfert werden, damit die anderen überdauern und das System als solches kenntlich bleibt und sich erhält. So müssen etwa Beiträge erfüllt oder Leistungen gesenkt werden, zahlungskräftige Mitglieder hinzugezogen oder zahlungsschwache ferngehalten und unsolidarische ausgeschlossen werden, damit das System der sozialen Rentenversicherung sich erhält.
    Im Zentrum einer Theorie der Selbststeuerung soziokultureller Systeme steht die Annahme, dass diese eine starke Kraft entwickeln, sich selbst zu erhalten und zu überleben. Dies schafft einen Widerspruch zur Überlebenskraft anderer Sozialsysteme und Individuen. Es kann zum Kampf kommen. Der Widerspruch wird allerdings meistens dadurch aufgehoben, dass die Systeme einander brauchen. Sie brauchen auch Individuen beziehungsweise Rollenträger. Und diese brauchen die Systeme.
    Warum weniger durchaus mehr bedeuten kann
    Wie aber ist der komplexe Prozess moderner soziokultureller Stabilisierung mit dem Problem der demografischen Stabilität verbunden? Die beiden Prozesse sind zwei grundverschiedene Vorgänge. Die soziokulturelle Stabilisierung lässt sich nur verstehen über die gesteigerte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher