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Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Titel: Geschwister - Liebe und Rivalitaet
Autoren: Horst Petri
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Einleitung
    Friedlich schaukelten die bunten Fischerboote am Quai. In der Taverne von Jorgos saßen einige Griechen. Das Lammfleisch auf meinem Teller schwamm in Öl, und ich schenkte mir gerade ein Glas Wein ein, als die beiden hereinkamen. Der junge Mann, blond, schlaksig und mit randloser Brille, fingerte tänzelnd ein paar Pommes frites von der Platte, die der Wirt eben einem Gast servierte, grüßte freundlich in die Runde und setzte sich zu der jungen Frau. Sie, kleiner als er und von robuster Statur, strahlte ihn unentwegt an, während sie genüsslich ihre Beute verzehrten.
    Die Szene war von jener schwebenden Heiterkeit, wie man sie manchmal in Träumen und nur selten in der Realität erlebt. Dennoch hätte ich sie bald wieder vergessen, wenn die beiden ein übliches Liebespaar gewesen wären. Ich lernte Anja und »Steppke«, wie sie ihren jüngeren Bruder nannte, am nächsten Morgen in der Backstube der Dorfbäckerei kennen. Nach einem kurzen Gespräch luden sie mich für den Abend in »unser Haus« ein. Es lag außerhalb des Ortes, in verwilderter Landschaft, nur zu Fuß über einen Ziegenpfad erreichbar, eine verfallene Hütte mehr, die sie mithilfe ihrer Eltern notdürftig hergerichtet hatten. Seit einem Jahr lebten sie bereits hier. Sie teilten ihr Geld, das sie bei Gelegenheitsarbeiten verdienten, führten einen gleichberechtigten Haushalt, jeder von ihnen hatte seine Lieben und Liebschaften, und sie verbrachten viel Zeit gemeinsam und mit Freunden.
    Die Idee zu diesem Buch kam mir erst viel später. Aber ich glaube, die beiden haben eine wichtige Spur dahin gelegt. Sie schienen wie aus einem Märchenbuch entsprungen zu sein, sospielerisch wirkte ihr Dasein, so unbekümmert ihre Freude, ihr Lachen und ihre Herzlichkeit. Sie waren, wie die Gespräche zeigten, einer Welt entflohen, die sie als böse, aggressiv und fremd erlebten, einer, wie Steppke sagte, »destruktiven Zivilisation«, die ihnen das »eigentliche Leben« zu rauben drohte.
    Das Bild dieser beiden Geschwister schob sich in der folgenden Zeit immer wieder zwischen meine Arbeit. Geschwisterliebe. Gibt es das überhaupt? Liest und hört man nicht immer nur über Geschwisterhass, Geschwisterneid und Geschwisterkonkurrenz? Ich wurde neugierig. Hatte schon jemand untersucht, was das ist, Geschwisterliebe? Geschwisterinzest, ja. Das Thema zieht genug Voyeure an, von der Wissenschaft bis zur Gazette. Aber eine Liebe zwischen Geschwistern, die frei ist von sexuellem Begehren? Ich habe Anja und Steppke danach gefragt, einige Zeit später, als wir uns schon besser kannten. Beide lachten. Irgendwie schien ihnen das Lachen angeboren zu sein. »Ich finde meine Schwester süß«, sagte Steppke, »manchmal ist sie ein Besen, man kann sie nur lieb haben, aber«, und damit wandte er sich Anja zu, »mit dir schlafen, dazu bist du mir viel zu dick.« Anja war über seine Neckerei gar nicht beleidigt. »Genau«, sagte sie, »er ist mir viel zu dürr, ich habe noch nie daran gedacht, obwohl«, neckte sie zurück, »du ein guter Liebhaber sein sollst.«
    Viel später fing ich an, die Literatur zu sichten. Was war dran an meiner Idee von der Geschwisterliebe? Sollte sie mir als heile Insel dienen, als irrationaler Rettungsanker gegen eine »destruktive Zivilisation«? Natürlich war mir auch in diesem Suchstadium klar, dass menschliche Beziehungen ambivalent sind, dass also auch Geschwisterbeziehungen keinen Schutz vor negativen Gefühlen bieten. Diese Tatsache setzte sich schließlich im Titel des Buches durch. Aber es kam mir auf die Gewichtung an. Ist der Begriff der Geschwisterliebe deshalbso ungewöhnlich, weil die einseitige Akzentuierung des Geschwisterhasses den Blick für sie verstellt hat?
    Die vorhandene Literatur über Geschwister lässt sich in vier Bereiche gliedern. Der erste umfasst die von den Anfängen der Geschwisterforschung bis in die Gegenwart reichende Literatur über Geschwisterkonstellationen, das heißt über die Frage, welchen Einfluss die Stellung in der Geschwisterreihe auf den Charakter, die Lebensentwicklung, die Partnerwahl und vieles andere jedes Geschwisters hat. 1 Die moderne Forschung ist sich darüber einig, dass es zweifellos Konstellationseffekte gibt, deren Aussagewert aber durch eine mechanistische Sichtweise stark eingeschränkt wird, da sie das komplexe Geflecht und die Dynamik familiärer Beziehungen zu wenig berücksichtigt.
    Den zweiten Bereich stellt die umfangreiche sozialwissenschaftliche und klinisch-psychologische
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