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Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Titel: Geschwister - Liebe und Rivalitaet
Autoren: Horst Petri
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ist nicht nur ein Geschenkfür Mutter und Vater, sondern auch für das größere Kind. Die vorgeburtlichen Bindungen nehmen jetzt Konturen an. Das Baby ist wilde Natur. Es schreit ungehemmt, wenn es Hunger hat, saugt gierig an der Brust der Mutter, schläft danach selig ein, pinkelt und kackt zu jeder Tages- und Nachtzeit, strampelt wie wild mit Armen und Beinen, besonders wenn es nackt ist, später jauchzt es laut vor Freude, wenn es Mutter, Vater und Geschwister sieht. Ganz unzivilisiert das Ganze, ganz unerzogen. Herrlich! Es ist merkwürdig, dass diese Nähe, Verbundenheit und innere Verwandtschaft des Kindes zu solcher Form ursprünglicher Natur, wie sie ihm von seinem jüngsten Geschwister vorgelebt wird, bisher nicht gesehen wurde. Freud hat eine einleuchtende Erklärung für die Liebe von Kindern zu Tieren gefunden: »Das Verhältnis des Kindes zum Tiere hat viel Ähnlichkeit mit dem des Primitiven zum Tiere. Das Kind zeigt noch keine Spur von jenem Hochmut, welcher dann den erwachsenen Kulturmenschen bewegt, seine eigene Natur durch eine scharfe Grenzlinie von allem anderen Animalischen abzusetzen. Es gesteht dem Tiere ohne Bedenken die volle Ebenbürtigkeit zu; im ungehemmten Bekennen zu seinen Bedürfnissen fühlt es sich wohl dem Tiere verwandter als dem ihm wahrscheinlich rätselhaften Erwachsenen.« 5
    Und das jüngste Geschwister, das Baby? Es zeigt die gleiche animalische Freiheit und ungehemmte Durchsetzung seiner Bedürfnisse wie die Tiere. Für ein Kind, das die ersten Sporen der Kultur aufgedrückt bekommen hat, wird das Baby zum Spiegel seiner zum Teil bereits aufgegebenen primären Natur. Indem es sich mit dem Baby identifiziert, befriedigt es regressiv eigene Triebwünsche und narzisstische Bedürfnisse. Die geläufige Beobachtung, dass ältere Kinder nach der Geburt eines Geschwisters erneut säuglingshaftes Verhalten annehmen (Nuckelflasche, ins Bett machen usw.), wird häufig als pathologischer Rückfall auf eine frühere Entwicklungsstufe gedeutet.Wie aber, wenn beide nur eine primäre Naturverbundenheit eint? Während Freud die Naturnähe des Kindes zu Tieren betont, beschreibt Hermann Grimm in seiner Einleitung zu den Märchen der Brüder Grimm sehr anschaulich die Beziehung von Kindern zur weiteren Natur: »Es liegt in den Kindern aller Zeiten und aller Völker ein gemeinsames Verhalten der Natur gegenüber: sie sehen alles als gleichmäßig belebt an. Wälder und Berge, Feuer und Sterne, Flüsse und Quellen, Regen und Wind reden und hegen guten und bösen Willen und mischen sich in die menschlichen Schicksale ein.« 6
    Auch ein Baby ist für ein Kind noch Teil einer so verstandenen, ganzheitlich erfassten Natur. Es redet nicht, es läuft nicht, man kann eigentlich nichts mit ihm anfangen, noch entbehrt es jeglicher Zivilisation. Aber es ist »belebt«. Wenn man Kleinkinder im Kontakt mit Säuglingen beobachtet, finden sich viele Ähnlichkeiten zu ihrem Umgang mit Tieren und anderer Natur. Mit verklärtem Blick streicheln sie das Baby, singen ihm leise ein Lied vor, um es nicht zu erschrecken; sie sprechen besonders sanft mit ihm, als wenn Babys, Tieren und Pflanzen die Sprache der Sanftheit gemeinsam wäre, sie bieten ihnen Blümchen an – Geschenke der Liebe in einem eigenen kleinen Kosmos. Keiner darf sie dabei stören.
    Wenn Erwachsene unbemerkt solche Szenen beobachten, finden sie sie »rührend«. Sie werden von der Versunkenheit angerührt, mit der sich Kinder ihrer Liebe hingeben. Die verbreitete Lehrmeinung ist, dass solche Liebe auf Identifikation mit der Mutter oder auf Nachahmung beruht, was letztlich dazu diene, die destruktiven Impulse gegen das Geschwister abzuwehren und sich durch das erwünschte Verhalten die Liebe der Eltern zu sichern. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass diese Mechanismen erst zu einem späteren Zeitpunkt zum Tragen kommen, dann nämlich, wenn eine reale oder nur eingebildete Benachteiligung durch die Eltern wegen der wachsendenAnsprüche des Säuglings befürchtet wird oder die expansive Entwicklung des Geschwisters zu unvermeidbaren Konflikten führt. Im frühen Stadium nach der Geburt dürfte dagegen die Beziehung überwiegend auf einem autonomen Vorgang der Objektbindung basieren, bei dem es zu einer einzigartigen Wiederbegegnung des Kindes mit seiner primären Natur kommt. Nachdem sich in der Vorgeburtsphase die erste Bindung als Vorläufer der Geschwisterliebe entwickelt hatte, erzeugt der Säugling bei seinem älteren Geschwister eine
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