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Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Titel: Geschwister - Liebe und Rivalitaet
Autoren: Horst Petri
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vollständigen Vernichtung des Bösen (die Stiefmutter wird verbrannt) und der Befreiung des Bruders zur eigenen Männlichkeit.
    Im Märchen »Hansel und Gretel« ist es die leibliche Mutter, die ihre Kinder im dunklen Wald aussetzt, wohl kalkulierend,dass sie darin umkommen werden. Sie gehört zum Typ der ausstoßenden Mutter, wie sie aus der Familienforschung bekannt ist. Hintergrund für solche Ausstoßungstendenzen sind bewusste oder auch unbewusste, bis zu Todeswünschen reichende Hassgefühle. Aber im Märchen trägt sie noch einen anderen Charakterzug. Als Hexe im Knusperhäuschen lockt sie die Kinder mit Süßigkeiten. Diese orale Verwöhnung dient jedoch dem alleinigen Zweck, die Kinder auch oral verschlingen zu können. Psychologisch handelt es sich dabei um ein klassisches Beispiel eines »double-bind«, einer Doppelbindung, bei der gegensätzliche Impulse (Verwöhnung, Vereinnahmung) die Orientierung und das Vertrauen des Kindes erschüttern und die Entwicklung einer Objektkonstanz verhindern. Diese Charaktermerkmale verweisen, ähnlich wie bei der Stiefmutter von »Brüderchen und Schwesterchen«, auf eine frühe Beziehungsstörung zwischen der Mutter und ihren Kindern. Die Geschwisterliebe von Hansel und Gretel kann also auch hier nur aus einer autonomen Quelle stammen. Aus ihr haben sie die Kraft geschöpft, der mütterlichen Vereinnahmung, der Ausstoßung, dem Verlassenwerden und den damit drohenden Lebensgefahren zu entrinnen. Ihre sorgende und sich wechselseitig rettende Liebe überwindet das Böse (auch die Knusperhexe wird im Backofen verbrannt) und beschert sie reich mit Glück.
    In beiden Märchen wird nicht angegeben, wer das ältere oder jüngere der Geschwister ist. Alle Kinder sind in vergleichbarer Weise lebenstüchtig, und ihre Geschwisterliebe ist gleich stark ausgeprägt. So können sie wechselseitig die Rollen einnehmen, die sie zur Rettung des anderen aus einer Gefahrensituation benötigen. Dieser Hinweis ist wichtig, weil bisher offen blieb, wie denn der von seinem Geschwister geliebte Säugling seinerseits eine Objektliebe entwickelt. Durch zahlreiche Anlässe kann das Baby schon im frühen Stadium seiner Objektdifferenzierung das Geschwister als eigenständiges und liebevolles Objektwahrnehmen. Je nach Alter gibt das ältere Kind dem jüngeren die Flasche, wiegt es in seinen Armen, trägt es herum, schaukelt es und versucht durch allerlei Späße, das Baby zum Lachen zu bringen. Es verbringt gewöhnlich mehr Zeit in seiner Nähe als die Eltern, beide schlafen meistens in einem gemeinsamen Zimmer. Für das Baby bekommt auf diese Weise das Geschwister eine Allgegenwart und spezifische Merkmale, die spätestens ab dem dritten Monat eine Unterscheidung zwischen Mutter, Vater und Geschwister möglich machen. In der psychologischen Literatur spielte bisher die Mutter die zentrale Figur als erstes und nahezu ausschließliches Liebesobjekt im frühen Säuglingsalter. Erst die neuere Geschwisterforschung zeigt, dass hier eine Ergänzung notwendig ist, um den Ursprung der Geschwisterliebe besser zu verstehen.
    Das Kleinkind besitzt für den Säugling eine enorme Kompetenz bezüglich aller seiner bereits entwickelten Fertigkeiten. Außerdem unterscheidet es sich durch eine Fülle von Merkmalen, Tätigkeiten und Beziehungsformen von den Eltern. Aufgrund der komplexen Wahrnehmungs- und Differenzierungsfähigkeit junger Säuglinge, wie sie erst die neuere Säuglingsforschung entdeckt hat, ist bisher die Annahme naheliegend, dass es auch vonseiten des Säuglings bereits in den ersten Monaten zu einer spezifisch geprägten Objektliebe zu dem älteren Geschwister kommt. Der Säugling spiegelt sich nicht nur »im Glanz des Auges der Mutter«, sondern auch im Lächeln des Geschwisters, in seiner Umarmung, in seiner Zärtlichkeit und Fürsorge. Diese narzisstische Widerspiegelung ist die notwendige Voraussetzung, um das Geschwister als Liebesobjekt in sich aufnehmen zu können. Wie die Mutter, so wird auch das Geschwister nicht nur zu einem guten äußeren, sondern auch zu einem guten inneren Objekt, das zum Aufbau und zur Stabilität eines eigenen Selbst für den heranwachsenden Säugling von zentraler Bedeutung ist.
    Der bekannte Psychoanalytiker Otto Kernberg hat verschiedentlich auf die wichtige Funktion guter innerer Objektrepräsentanzen für die Bewältigung innerer und äußerer Konflikte hingewiesen. Mir scheint, dass neben der Vater- und Mutterrepräsentanz die Geschwisterrepräsentanz im
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