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Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Titel: Geschwister - Liebe und Rivalitaet
Autoren: Horst Petri
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Liebe im Sinne narzisstischer Verschmelzungswünsche. Aus diesen beiden Kernen, dem Vorläufer der Objektliebe und der narzisstischen Besetzung des Objektes im frühesten Stadium der Geschwisterbeziehung, entwickelt sich unter günstigen Bedingungen die spätere und reife Geschwisterliebe.
    Der dargestellte Zusammenhang lässt sich durch Ergebnisse einer Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Berlin, belegen. 7 In einer Langzeituntersuchung über einen Zeitraum von zwei Jahren wurden 16   Familien beobachtet, die zu Beginn der Studie ihr zweites Kind bekamen. Die Entwicklung der Geschwisterbeziehung wurde in drei Phasen eingeteilt: 1.–9.   Monat, 9.–18.   Monat und 18.–24.   Monat. Für alle drei Phasen wurde durch Direktbeobachtungen untersucht, wie sich das Verhältnis von positivem und negativem Verhalten des älteren Kindes gegenüber dem zweiten im Laufe der zwei Jahre verändert. Dabei ergaben sich folgende Durchschnittswerte:
     
    Positives Verhalten:
    1.   Phase 30,5; 2.   Phase 16,7; 3.   Phase 13,7
    Negatives Verhalten:
    1.   Phase 1,4; 2.   Phase 10,9; 3.   Phase 12,1
     
    Die eindrucksvollen Ergebnisse zeigen, wie ausgeprägt besonders in den ersten neun Monaten das positive Verhalten des älteren Geschwisters gegenüber dem Säugling ist. Demgegenüberwiderlegt der Minimalwert des negativen Verhaltens in diesem Zeitraum die geläufige Meinung über die Vorherrschaft destruktiver Gefühle ab der Geburt. Nach meiner Deutung der Befunde lässt sich der krasse Unterschied zwischen positivem und negativem Verhalten nicht allein auf die Wirksamkeit von Identifikationsprozessen und Nachahmung zurückführen. Vielmehr scheint darin der autonome Anteil der Objektbeziehung zum Ausdruck zu kommen, der sich durch eine primäre Liebe ausdrückt. Bemerkenswert ist an den Ergebnissen weiterhin, dass die positiven Verhaltensweisen im Laufe der ersten zwei Jahre zwar abnehmen und die negativen ansteigen, dass Erstere aber über alle kritischen Phasen dieser Zeit hinweg die Oberhand behalten.
    Ich halte die Annahme von einer frühen Geschwisterliebe als einem selbstständigen Prozess der Objektfindung für außerordentlich bedeutsam, weil dadurch die Verbindung der Geschwister auch als vom mütterlichen Einfluss unabhängig gedacht werden kann. Eine Liebe, die nur auf Identifizierung oder Nachahmung beruht, ist durch ihre Fremdbestimmung flüchtiger und anfälliger für Irritationen jeder Art. Dagegen bildet eine selbstbestimmte Liebe ein stabileres Fundament, um spätere Belastungen besser zu ertragen. Wie wichtig die theoretische Ableitung für die Praxis ist, dürfte sich besonders in Grenzsituationen erweisen, in denen Identifikation und Nachahmung erschwert oder verunmöglicht werden, zum Beispiel bei Müttern, die ihre Kinder nicht lieben können oder sogar offen ablehnen oder die durch Tod, schwere Krankheit und andere Formen der Trennung die Kinder in der Frühphase ihrer Geschwisterbindung allein lassen. In diesen Fällen müsste man, dem gängigen theoretischen Konzept zufolge, davon ausgehen, dass es zu einer frühen und tief greifenden Entfremdung zwischen den Geschwistern kommt. Dies scheint jedoch in der Praxis nicht zwangsläufig der Fall zu sein. Da die Geschwisterliebeaber bisher ein weitgehend unerforschtes Gebiet ist und diesbezüglich kaum beweisbares Material vorliegt, bietet sich eine andere Quelle an, um das Schicksal von Geschwisterbeziehungen nach dem Verlust der Mutterliebe zu verfolgen.
    Bekanntlich spielen Märchen in dem hermeneutischen Deutungsverfahren der Psychoanalyse eine besondere Rolle, um über das in ihnen gespeicherte kollektive Wissen zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Für unseren Kulturkreis wurde die zu Beginn des 19.   Jahrhunderts herausgegebene Märchensammlung der Brüder Grimm zu einer Fundgrube tiefenpsychologischer Einsichten. In diesen Märchen spielt das Schicksal von Geschwisterpaaren eine herausragende Rolle. Historisch stammen sie aus einer Zeit, in der Müttersterblichkeit, früher Kindstod und Hunger in den verarmten Bevölkerungsschichten an der Tagesordnung waren. Insofern sind die Märchen auch Spiegel konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse. Durch diesen Realitätsbezug gewinnt aber auch ihre psychologische Dimension einen tieferen Wahrheitsgehalt.
    An zwei Beispielen, »Brüderchen und Schwesterchen« und »Hansel und Gretel« 8 , lässt sich die Annahme einer frühen und von positiven Außeneinflüssen unabhängigen
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