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Weine ruhig

Weine ruhig

Titel: Weine ruhig
Autoren: Aliza Barak-Ressler
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kleinen Kindern gezwungen, wie wilde Tiere unter der Erde zu leben.
    Wortlos umarmten und küssten wir ihn, zu seiner großen Verlegenheit. Vater übersetzte die vielen Fragen, mit denen er uns überschüttete. Er wollte alles über uns erfahren. Er sagte, der Krieg sei noch nicht vorbei, aber die Rote Armee sei inzwischen auf deutsches Gebiet vorgestoßen. Direkt über uns bewege sich die Front zügig Richtung Westen. Während er sprach, zog der Soldat ein Wurstbrot aus seiner Tasche und drängte uns, es zu essen.
    Ich musste plötzlich an die Deutschen denken, die uns vor einiger Zeit beinahe aufgespürt hätten. Während die Deutschen aus Angst vor den Partisanen die Höhle nicht betraten, sondern es vorzogen, ungezielt hineinzuschießen, war der sowjetische Soldat furchtlos nach unten gekommen, obwohl er nicht wusste, wer oder was ihn erwartete. Wir fragten ihn, woraus er geschlossen habe, dass sich in diesem Erdloch Menschen befanden. Er sagte, er habe den warmen Luftzug gespürt, der aus der Öffnung kam, und daraus geschlossen, dass sich dort unten Menschen befinden mussten. Es sei seine Pflicht gewesen, der Sache auf den Grund zu gehen, um sicherzustellen, dass ihnen kein Hinterhalt drohte.
    Nachdem wir den anfänglichen Schreck überwunden hatten, vertrauten wir dem Soldaten. Er schlug vor, dass wir ihn nach oben begleiteten, um die anderen Soldaten aus seiner Einheit kennen zu lernen. Wir willigten sofort ein und folgten ihm. In der Zeit, die wir brauchten, um nach oben zu kriechen, hatte er einige seiner Kameraden um sich versammelt und erzählte ihnen eine Kurzfassung unserer Geschichte. Sie staunten sehr, als sie erfuhren, dass wir so lange unter der Erde gelebt hatten. Aber noch ehe wir eine Unterhaltung beginnen konnten, begannen die Gefechte von neuem. Die Soldaten befahlen uns, sofort wieder nach unten zu gehen, aber nicht, bevor sie ihre Umhängetaschen geleert hatten, um ihre Verpflegung - trotz unseres Protests - großzügig mit uns zu teilen.
    Wir krochen wieder nach unten und setzten uns nebeneinander auf den strohbedeckten Boden. Und plötzlich machten wir alle unseren Gefühlen Luft, wir weinten und lachten zugleich. Es war schwer zu glauben, dass der Moment unserer Befreiung endlich gekommen war. Etwas später kam ein anderer Soldat, ein junger Offizier, zu uns. Er sagte, dass er Jude sei, und sprach Jiddisch. Wir waren hocherfreut, einem Angehörigen unseres Volkes zu begegnen, vor allem auch, weil wir uns mit ihm auf Jiddisch unterhalten konnten. Der Offizier sagte, dass er, als er von der jüdischen Familie erfahren habe, die sich in einem Erdloch versteckte, uns sofort habe kennen lernen wollen.
    Er hörte aufmerksam zu. Auch wenn er von der Verfolgung und der Deportation der Juden Kenntnis hatte, so hatten die Soldaten seines Ranges in der Roten Armee in all den Kriegsjahren wenig Gelegenheit gehabt, sich über das Schicksal der Juden oder die Entbehrungen der Zivilbevölkerung Gedanken zu machen. Der Offizier war schockiert über die Menschenunwürdigkeit unserer Existenz. In seinem jungen Gesicht standen Wut und Trauer, und er war glücklich, dass es ihm beschieden war, zu unseren Befreiern zu gehören und uns die Botschaft zu überbringen, dass wir gerettet seien. Er versprach, dass sich unsere Situation nun bessern und das Leben in Angst bald vorbei sein würde.
    Der ganze wunderbare Tag verging wie im Rausch. Immer wieder spähten wir vorsichtig aus der Öffnung, konnten nicht fassen, dass unser Leiden ein Ende haben sollte. Russische Soldaten besuchten uns Tag und Nacht. Soldaten und Offiziere kamen und gingen meist paarweise, weil der Raum so eng war. Alle wollten uns sehen und mit uns sprechen, auch wenn wir uns meistens nur mit den Augen und in Zeichensprache verständigen konnten. Einige von ihnen brachten uns Essen, um uns eine Freude zu machen. In der Zwischenzeit gingen die Kämpfe weiter, und die Explosionen erschütterten die Wände der Höhle.
    Nachts, wenn es still war, krochen wir aus der Höhle und setzten uns zu den Soldaten ans Lagerfeuer. Sie hüllten uns in Decken und überschütteten uns mit Aufmerksamkeiten. Wir reagierten mit Dankbarkeit und Bewunderung. Als sie wehmütige Lieder sangen, begleitet von einem Akkordeon, wandte einer der Soldaten sich an Vater und sagte: »Dawai, wodka.« Wir dachten, der Soldat hätte Durst und wollte Wasser trinken, denn im Slowakischen heißt vodka Wasser. Ronny und ich standen sofort auf und rannten mit einem Eimer zur Quelle.
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