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Weine ruhig

Weine ruhig

Titel: Weine ruhig
Autoren: Aliza Barak-Ressler
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zum Dorfarzt zu bringen, auch wenn wir dadurch Gefahr liefen, gefangen genommen und deportiert zu werden. Aber ich war dagegen und versprach ihnen, gesund zu werden.
    Im Laufe des Januar rückte die Front immer näher. Jeden Tag wurde der Lärm der Artilleriegeschosse lauter. Sobald die Rote Armee das Dorf erreichen würde, wären wir gerettet und könnten unser Versteck verlassen. Wenn es doch bloß schnell ginge, damit man meine Krankheit heilen konnte. Es ging mir nach wie vor nicht besser. Die meiste Zeit schlief ich fest. Ich aß kaum etwas. Zum Glück trank ich viel Wasser, und das hielt mich möglicherweise am Leben. Ich wurde sehr schwach und konnte mich kaum aufsetzen.
    An einem Tag dieses kalten Januars 1945 kam Vater vom allmorgendlichen Leeren des Eimers zurück. »Die Sonne scheint«, sagte er, »der Himmel ist strahlend blau, es ist kalt, aber die Luft ist gut.« Er machte mir einen verführerischen
    Vorschlag, dem ich nur allzu gern zustimmte. Wenn ich wollte, würde er mit mir nach oben gehen. Alle fanden die Idee gut. Ich sehnte mich nach ein bisschen Tageslicht und frischer Luft. Ich war seit dem Besuch im Dorf, Anfang des Monats, nicht mehr draußen gewesen, und freute mich darauf, die warmen Strahlen der Sonne auf meinem Gesicht zu spüren.
    Mutter half mir, ein paar Kleider und Pullover übereinander anzuziehen, und band mir ein Kopftuch um. Mit Vaters und Ronnys Hilfe gelang es mir, aus dem Loch zu klettern. Nach der langen Bettruhe konnte ich mich kaum auf den Beinen halten, und die beiden mussten mich stützen. Die Sonne und der Schnee blendeten mich, und ich schloss immer wieder die Augen. Ich konnte das Tageslicht nicht ertragen und sah nur ein gleißendes Weiß, das meinen Augen wehtat. Ich fragte Vater und Ronny, ob sie etwas sehen könnten. Auch Ronny musste sich erst an das Licht gewöhnen, doch dann beschrieb er mir, was er sah: Bäume, die Silos und das offene Feld zwischen unserer Höhle und dem Dorf.
    Wir standen eine Weile da, aber ich konnte immer noch nichts sehen. Dann dachte ich entsetzt, dass ich möglicherweise erblindet sei. Vater und Ronny waren der Meinung, dass das hohe Fieber und das Fasten meine Sehfähigkeit beeinträchtigt hätten, dass es sich aber um eine vorübergehende Störung handelte. Aber ich regte mich sehr auf. Ich rieb mir die Augen, ich blinzelte, aber ich konnte weiterhin nichts sehen, außer schwarzen und weißen Flecken, die sich bewegten.
    Plötzlich wurde mir übel. Ich wäre umgefallen, wenn Vater und Ronny mich nicht gehalten hätten. Sie brachten mich langsam zur Höhle zurück. Ich sagte, ich müsse mich ausruhen, und sie halfen mir, mich auf die schneebedeckte Erde zu setzen. Tränen liefen mir übers Gesicht, und mein Herz hämmerte wie wild. Hatte ich das Augenlicht verloren? Ich hatte einen Hustenanfall und spuckte blutigen Schleim aus. Vater und Ronny waren entsetzt, als sie die rostrote Farbe sahen. Aber ich konnte weder ihren besorgten Gesichtsausdruck sehen noch die blutige Farbe. (Sie haben es mir später erzählt, als ich wieder gesund war.) Die beiden beschlossen, mich sofort zurück in die Höhle zu bringen. Sie mussten mich halb ziehen, wie ich merkte, denn ich hatte keine Kraft mehr.
    Zurück im Loch, hörte ich, wie die anderen flüsterten. Aber erst später erfuhr ich von der Sorge meiner Familie und meiner Freunde. Sie fühlten sich hilflos.
    Ich hustete immer mehr Schleim aus. Eine Besserung meines Leidens trat erst ein, als ich endlich meine verstopfte Lunge frei gehustet hatte. Schließlich sank das Fieber. Ich aß wieder und kam langsam zu Kräften. Hin und wieder ging ich nach oben, um etwas frische Luft zu schnappen. Von Tag zu Tag erholte ich mich. Doch ich war immer noch in Sorge, weil ich nach wie vor nichts sehen konnte und fürchtete, erblindet zu sein. Mein Husten ließ nach, und schließlich beteiligte ich mich auch wieder an den Unterhaltungen und am Geschichtenerzählen.
    Wie durch ein Wunder war ich gesund geworden - und das ohne Medikamente und unter unerträglichen Bedingungen. Zu meiner großen Erleichterung konnte ich schließlich auch wieder richtig sehen. (Nach der Befreiung wurde ich in einer Lungenklinik untersucht und geröntgt. Die Ärzte fanden dabei einen dunklen Schatten auf meiner Lunge. Sie verordneten mir eine Kur in der Hohen Tatra, und dort, in der Höhenluft, konnte ich endgültig genesen.)
    Im Februar, dem kältesten Monat des Jahres, waren wir gezwungen, auch abends unter der Erde zu bleiben,
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