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Weine ruhig

Weine ruhig

Titel: Weine ruhig
Autoren: Aliza Barak-Ressler
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gebaut worden waren. Um jeden Innenhof wohnten zehn oder zwölf Familien, alle in sehr bescheidenen Verhältnissen. Für gewöhnlich waren die Toiletten nicht in der Wohnung, sondern befanden sich an einem Ende der Höfe. Meine Familie wohnte zusammen mit zehn weiteren jüdischen Familien an einem Hof in der Hauptstraße gegenüber der Großen Synagoge. Wir waren drei Schwestern: Ich war 1936 sechs Jahre alt und wurde im selben Jahr eingeschult, Rachel, die vier war, ging in den Kindergarten, und Miriam, noch ein Baby, wurde tagsüber von einer Kinderfrau versorgt.
    1936 verlief das Leben ruhig und ohne besondere Vorkommnisse. Es gab noch keine Anzeichen der drohenden Katastrophe. Die Juden empfanden Michalovce als ihre Heimat, so wie viele Generationen von Juden, die vor ihnen dort gelebt hatten. Wir wussten es nicht, aber der Sand des Stun-
Die ehemalige Große Synagoge im Stadtzentrum von Michalovce
    denglases ging bereits zur Neige, Körnchen für Körnchen, und signalisierte das Ende unseres unbeschwerten Lebens und damit den Beginn einer unheilvollen, furchterregenden Zeit. Gerüchte sickerten durch, denen zufolge die Juden im aufgeklärten Deutschland grob behandelt würden und viele von ihnen das Land verließen, aber das betraf uns im Grunde nicht.
    1936 wurde ich in die erste Klasse der städtischen, nichtjüdischen Grundschule eingeschult. Das war für mich ein ganz besonderes, sehr bewegendes Ereignis. Meine Eltern begleiteten mich nicht an meinem ersten Schultag, weil das bei uns nicht üblich war. Vielleicht vertrauten sie mir, oder vielleicht bedeutete ihnen die ganze Angelegenheit nicht viel.
    Ich habe bis heute eine seltsame Angewohnheit: Wenn ich morgens aufwache, blicke ich zuallererst zum Fenster, so wie ich es als Kind in Michalovce tat. Damals sah ich durch das Fenster auf einen großen Baum. Es war für mich so etwas wie ein Ritual, den Baum jeden Morgen zu begrüßen, als würde er den neuen Tag verkünden und ihn segnen. Der Baum vor meinem Fenster symbolisierte Ausdauer und Beständigkeit, etwas zutiefst Weises und Beruhigendes. Ich beobachtete die Veränderungen, die der Baum im Wechsel der Jahreszeiten durchmachte. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass man mit dem Baum sogar sprechen konnte.
    Von frühster Kindheit an war ich auf mich selbst gestellt, vielleicht, weil ich die Älteste war. Deshalb begriff ich schon in der ersten Schulwoche, dass ich zeitig aufstehen musste. Ich war immer die Erste, die wach wurde. Meine Eltern, die im Nebenzimmer schliefen, wussten, dass ich ein verantwor-tungsbewusstes Mädchen war und das Modeh Ani betete, das morgendliche Dankgebet. Meine Hausaufgaben erledigte ich nachmittags. Die Schulmappe lag auf dem Stuhl neben meinem Bett. Sie enthielt nur ein Buch, eine Fibel, einen Federkasten und zwei Hefte, ein Schreibheft und ein Rechenheft.
    Damals unterrichtete man nach der Lautschriftmethode, ohne zunächst auf die Bedeutung der Wörter zu achten. Jede Seite der Fibel widmete sich einem anderen Buchstaben des Alphabets. Wenn wir den Klang, den Namen und die Form eines Buchstabens kannten, sagten wir ihn monoton immer wieder auf. Erst als wir am Ende der Fibel angelangt waren, wurden die Buchstaben zu Wörtern zusammengesetzt. Ich fand das langweilig. Rechnen hingegen liebte ich. Ich konnte zählen und addieren und prahlte gern mit dem, was ich schon im Kindergarten gelernt hatte. Im Lesen war ich weniger mutig, weil meine Muttersprache nicht Slowakisch war, die Sprache, die in der Schule gesprochen wurde.
    Meine Mutter war aus Ungarn in die Slowakei gekommen, um zu heiraten - es handelte sich um eine arrangierte Ehe, wie es damals Brauch war. Sie sprach die Landessprache nicht, und abgesehen von den wenigen Sätzen, die sie zum Einkaufen und für ihr Schneidergeschäft brauchte, hat sie nie Slowakisch gelernt, obwohl es die Muttersprache meines Vaters war. Glücklicherweise kam meine Mutter in unserer Gegend mit Ungarisch und Deutsch ganz gut zurecht, weil die
    Juden dort beide Sprachen fließend beherrschten. Zu Hause sprachen wir Ungarisch. Mein Slowakisch war kümmerlich, beruhte auf dem, was ich im Kindergarten, den ich kurze Zeit besuchte, und beim Spielen mit den Nachbarskindern aufgeschnappt hatte. Mein Sprachdefizit wurde mir erst in der Schule bewusst und ärgerte mich jeden Morgen auf meinem Schulweg aufs Neue.
    Es war ein trüber grauer Herbsttag, ein kalter Wind peitschte mein Gesicht und piekste in meinen Ohren. Der Wind zerrte an den Zweigen
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