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Mit dem Blick aufs weite Meer

Mit dem Blick aufs weite Meer

Titel: Mit dem Blick aufs weite Meer
Autoren: Vanessa Grant
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1. KAPITEL
    Angela nahm den Fuß vom Pedal der Nähmaschine, schwang sich auf dem Drehstuhl herum und griff zum Telefonhörer. Gleichzeitig hielt sie mit der anderen Hand das Fischerhemd fest, an dem sie gerade nähte. Sie blinzelte, weil das grelle Licht der Morgensonne, das durch das Fenster in den Verkaufsraum fiel, sie blendete.
    Plötzlich wurde die Ladentür aufgerissen, und Angelas Schwiegervater Harvey stürmte herein. Eigentlich war er ein besonnener und zurückhaltender Mann, der mit seiner besänftigenden Art häufig Streit zwischen anderen Menschen schlichtete. Aber jetzt wirkte er äußerst erregt.
    Angela hielt den Hörer ans Ohr, meldete sich mit: “Dalton Bootsreparatur und Segelmacherei, guten Morgen”, legte dann die Hand auf die Sprechmuschel und erkundigte sich leise: “Dad, was ist los?”
    Aus dem Hörer ertönte die Stimme einer Frau, die eine wortreiche Erklärung abgab. Angela hörte kaum hin, denn der ungewohnte Anblick, den Harvey mit dem wirren grauen Haar und dem unsteten Blick bot, beunruhigte sie sehr. Er stütze sich mit beiden Händen auf den Tresen und fragte aufgebracht: “Wo ist Charlotte?”
    Die Stimme aus dem Telefon sagte: “… eine Umfrage bei Betrieben in Port Townsend, ob sie mit ihren Versicherungen zufrieden…”
    “Nein”, lehnte Angela energisch ab, “ich möchte an dieser Umfrage nicht teilnehmen.”
    “Die Ergebnisse dieser Umfrage werden…”
    “Ich bin nicht interessiert”, unterbrach Angela die Frau zum zweitenmal.

    “Angela, was ist?” fragte er, immer noch außer Atem. “Wenn du weißt, wo sie sich aufhält, dann sag es mir bitte. Ich muss unbedingt …”
    Sie bedeutete ihm zu schweigen. Dabei glitt der Stoff auf den Boden. Zwanzig Fischerhe mden, dachte sie, zehn mit rotem Besatz und zehn mit blauem, und dies hier ist erst Nummer elf. Bei Nummer elf läuft alles schief. Dann hörte Angela wieder die Dame von der Versicherung, die geduldig auf sie einredete.
    Im gleichen Augenblick schrie Harvey los: “Angie! Hast du gehört? Charlotte ist fort. Sie ist nicht auf ihrem Boot.”
    “Ja… Nein, ich habe gerade nicht mit Ihnen geredet! Nein, wir wollen nicht an der Umfrage teilnehmen.”
    “Sind Sie bei einer ortsansässigen Gesellschaft versichert?” fragte die Dame beharrlich weiter.
    “Ja”, antwortete Angela automatisch.
    Harvey trommelte mit den Fäusten auf den Ladentisch.
    “Dad, wahrscheinlich ist sie…”
    Hinter Angela wurde das Werkstattfenster aufgestoßen, und Barney rief: “Angie! Hast du diese nichtrostenden Beschläge bestellt, die ich für den Bug brauche?”
    “Ist Ihre Deckungssumme bei der Feuerversicherung höher als hunderttausend Dollar oder weniger?” wollte die Anruferin jetzt wissen.
    Durch das Schaufenster sah Angela ein Paar mittleren Alters die Schotterstraße überqueren und direkt auf den Laden zukommen. Angela wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich in Ruhe gelassen zu werden, damit sie die Fischerhemden zu Ende nähen konnte. Aber die ersten Kunden näherten sich bereits, und Harvey sah aus, als würde er jeden Moment explodieren. Zu allem Überfluss tauchte Barney auch noch im Laden auf und fragte wieder nach den Beschlägen.
    Die Frau am anderen Ende der Leitung wiederholte ihre Frage. Angela seufzte. “Hören Sie, ich habe keine Zeit für Ihre Umfrage. Ich…”
    Zornig schlug Harvey mit der Faust auf den Tresen. “Angie!” Seine buschigen graumelierten Brauen über den verstört blickenden braunen Augen waren drohend zusammengezogen. “Leg endlich auf und hör’ mir zu! Charlotte ist nicht auf ihrem Boot. Es ist abgeschlossen, und sie ist fort.”
    “Wahrscheinlich ist sie einkaufen gegangen.” Nein, dachte Angela, dann hätte sie kurz bei mir vorbeigeschaut.
    “Sie ist verschwunden!” brauste Harvey auf. “Die Rollos hinter den Bullaugen sind heruntergezogen. Außerdem ist das Beiboot an Deck, und der Kerl vom nächsten Steg sagte, sie sei früh morgens von Bord gegangen und habe einen Koffer bei sich gehabt.”
    Vor zwei Monaten hatte die einundfünfzigjährige Charlotte mit ihrem Segelboot den Hafen der verschlafenen Stadt Port Townsend angelaufen. “Ein Sonnenstrahl”, hatte Harvey gesagt.
    Seit dem Tod seiner geliebten Anna war er einsam gewesen, aber durch Charlotte hatte er wieder Freude am Leben gefunden.
    Jetzt lehnte Barney neben Angela am Tresen. Die Schutzmaske, die er beim Schweißen trug, hatte er über die Stirn geschoben. “Was ist mit Charlotte? Angie, sind diese
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