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Weine ruhig

Weine ruhig

Titel: Weine ruhig
Autoren: Aliza Barak-Ressler
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der Bäume wie bei einem rituellen Tanz. Sie bewegten sich wie Arme von Tänzern nach oben und unten, nach links und nach rechts und verstreuten ihre schon gelb werdenden Blätter. Die Windstöße wirbelten die Blätter in Kreisen herum, ehe sie zu Boden schwebten. Es war ein wunderbarer Anblick, der immer noch einen hypnotischen Effekt auf mich hat, wenn ich ihn mir heute vergegenwärtige.
    Auf dem Schulweg traf ich viele Kinder, die ebenfalls zu dem niedrigen Haus mit dem Ziegeldach und den rechteckigen Fenstern eilten. Wir marschierten durch das Tor und betraten das Klassenzimmer, zogen die Mäntel aus, setzten uns paarweise auf unsere Bänke und warteten auf das Klingeln, das den Beginn des Unterrichts verkündete. Schließlich ging die Tür auf, und die Lehrerin stand auf der Schwelle. Die Kinder erhoben sich, und Stille senkte sich über das Klassenzimmer.
    »Guten Morgen, Kinder«, sagte die Lehrerin.
    »Guten Morgen, Frau Lehrerin«, antworteten wir im Chor.
    »Setzen«, befahl die Lehrerin, und wir setzten uns alle hin und verschränkten die Arme.
    »Ehe wir heute den Buchstaben D lernen, stehen alle auf, falten die Hände und beginnen den Tag mit einem Ave-Maria.«
    Alle Kinder sprachen das Gebet. Nur ich und meine beste Freundin Yehudit und noch ein paar andere jüdische Mädchen standen schweigend da. Wir hatten die Köpfe gesenkt, schlugen die Augen nieder, und unsere Hände hingen schlaff herunter. Ich war peinlich berührt, mir war bewusst, dass ich anders war, und verlagerte unruhig mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, während ich verlegen zur Lehrerin schielte. Als sich unsere Augen trafen, spürte ich Unbehagen. Ohne es zu wollen, fingen meine Lippen an, die Worte des christlichen Gebets zu murmeln, obwohl ich wusste, dass es nicht mein Gebet war. Jüdische Kinder brauchten die christlichen Gebete nicht mitzusprechen, und die jüdische Gemeinde schickte uns nachmittags einen eigenen Religionslehrer. Trotzdem mussten wir anwesend sein und während des Gebets mit der Klasse aufstehen. Das war peinlich und unangenehm. Ich spürte die neugierigen Blicke der nichtjüdischen Kinder auf mir. Das Gebet schien endlos zu dauern, und ich wünschte mir die ganze Zeit, dass es endlich zu Ende wäre, damit wir mit dem Unterricht anfangen könnten. Die Distanz zum Christentum, die ich damals bei diesen Morgengebeten empfand, spüre ich bis heute, sobald in meiner Gegenwart christliche Gebete gesprochen werden.
    Endlich wurde uns befohlen, die Fibel, Bleistifte und Hefte herauszunehmen. Der Unterricht begann. Plötzlich, nur wenige Minuten nachdem wir im Chor die Worte der Lehrerin wiederholt hatten, klopfte es. Es wurde sofort still, und alle sahen zur Tür. Auf ein Zeichen der Lehrerin hin erhoben wir uns und blieben schweigend stehen. Die Tür ging auf, und die Lehrerin der dritten Klasse betrat mit einem blonden Jungen den Raum. Die Lehrerin hatte den Schüler am Ohr gepackt, und er stand beschämt neben ihr. Seine geflickte Kleidung war ihm zu klein, und seine Schuhe waren dreckverkrustet. Er hielt den Kopf gesenkt und starrte auf den Boden.
    Die Lehrerin der dritten Klasse sagte: »Guten Morgen, Kinder, setzt euch.« Sie ließ das Ohr des Jungen los und fuhr fort: »Das ist Jan. Er ist ein Schüler von mir. Jan ist sehr faul und kann nicht rechnen. Ich habe ihn zu euch in die erste Klasse gebracht, damit er sieht, dass sogar die Erstklässler Rechenaufgaben lösen können, die ihm so schwer fallen. Ich habe ihn gefragt, wie viel sechs plus sieben ist, und er wusste es nicht. Gibt es hier jemanden, der dem dummen und faulen Jan die Lösung sagen kann?«
    Unsere Lehrerin suchte mit den Augen die Klasse ab, dann zeigte sie auf mich und sagte: »Kannst du diesem dummen Jungen sagen, wie viel sechs plus sieben ist?«
    Ich wusste die richtige Antwort sofort, aber ich wusste nicht, wie ich auf Slowakisch »dreizehn« sagen sollte, also antwortete ich unsicher: »Zehn, drei.«
    Die Kinder brachen in schallendes Gelächter aus, und ich wollte im Erdboden versinken, so sehr schämte ich mich. Aber unsere Klassenlehrerin kam mir zu Hilfe. »Ruhe, Kinder!«, sagte sie. »Alizas Antwort ist richtig. Die Antwort lautet tatsächlich dreizehn. Es ist nur schade, dass Aliza unsere schöne Sprache immer noch nicht richtig sprechen kann. Jedenfalls hat Jan etwas von ihr gelernt, und er sollte sich schämen, dass ein kleines Mädchen aus der ersten Klasse besser rechnen kann als er.«
    Mein Herz klopfte, und mein
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