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Weine ruhig

Weine ruhig

Titel: Weine ruhig
Autoren: Aliza Barak-Ressler
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kleine, aber nicht unbedeutende Rolle zugedacht war.
    Unsere winzige Wohnung verfügte über eine etwa vier Quadratmeter große Kammer, die man vom Schlafzimmer aus durch eine kleine Wandtür betrat und die keine Fenster hatte. Dort wurden Bettzeug und Wintersachen aufbewahrt.
    Mutters Plan war, dass Vater sich dort tagsüber verstecken sollte. Wir würden den Kleiderschrank vor die Kammertür schieben, um sie zu verbergen. Am Abend würden wir den Schrank wieder an seinen alten Platz zurückschieben, und Vater würde herauskommen und mit uns essen und vielleicht sogar in seinem eigenen Bett schlafen.
    Natürlich erzählten wir niemandem etwas von unserem Plan - nicht einmal meinen kleinen Schwestern, die sich vielleicht verplappern würden. Nur ich wusste Bescheid, weil Mutter jeden Abend meine Hilfe brauchen würde, um den Kleiderschrank beiseite zu schieben, damit Vater herauskommen könnte, und ihn dann nachts, wenn die Kleinen fest schliefen, wieder vor die Tür zu schieben.
    Und so machten wir es. Gegen Abend kam Vater heraus, aß einen Happen und legte sich für kurze Zeit aufs Bett - in der Kammer konnte er sich nicht ausstrecken, da sie zu klein war. Währenddessen standen Mutter und ich hinter der Wohnungstür Wache. Wenn sich jemand näherte, mussten wir Vater sofort wecken, damit er wieder in seinem Versteck verschwand. Nach nur zwei oder drei Stunden unruhigen Schlafs ging Vater wieder in die Kammer und setzte sich auf seinen Stuhl, Mutter und ich schlössen die Tür, die wir gerade so weit offen ließen, dass genug Luft hindurchkam, und schoben den Kleiderschrank wieder davor.
    Drei Tage verstrichen. Die meisten jüdischen Männer bereiteten sich darauf vor, den Befehl zu befolgen, suchten die notwendigsten Sachen zusammen, die sie in einen Rucksack stopfen konnten. Spannung lag in der Luft. Die Kinder gingen nicht zur Schule. Die Erwachsenen liefen mit besorgten Mienen herum, aus ihren Augen sprachen Verwirrung und Angst.
    Zur festgesetzten Zeit verließen die Männer ihre Wohnungen und machten sich auf den Weg zum Rathausplatz. Meine Schwestern und ich standen am Fenster und sahen ganze Familien, die die Hauptstraße entlangliefen, unter ihnen viele Nachbarn und andere Leute, die wir kannten. Es war ein schöner Frühlingstag, und wären die Gesichter der Männer nicht so angespannt gewesen und hätten die Mütter und die Ehefrauen, die ihre Söhne und Männer begleiteten, nicht geweint, dann hätte man meinen können, all diese Menschen seien auf dem Weg zu einem Ausflug oder einem Fest.
    Erstaunt beobachtete ich die Menschenmenge. Ich hatte nicht gewusst, dass es so viele jüdische Männer in unserer Stadt gab. Währenddessen war Vater in der Kammer eingesperrt. Mir war es ein bisschen peinlich, dass wir nicht Teil der Menge waren, als würde ich ein besonderes Erlebnis, das uns alle verband, verpassen. Ich war fast wütend, dass mein Vater nicht mitging und sich wie eine Maus in ihrem Loch versteckte.
    Allmählich ließ der Strom der Menschen nach. Schließlich überwältigte mich die Neugier: Ich wollte sehen, was als Nächstes passieren würde, und obwohl ich den Hof nicht verlassen durfte, stahl ich mich davon und mischte mich unter die Leute. Der Platz, auf dem die Männer sich versammeln sollten, lag in der Nähe unseres Hauses. Ich rannte den ganzen Weg, schwor, dass ich mich nur schnell vergewissern wollte, was los war, und dann gleich wieder nach Hause gehen würde.
    Als ich ankam, blieb ich staunend stehen. Auf dem großen Platz drängte sich eine riesige Menschenmenge. Ich sah mich um, hörte, wie die Menschen weinten und versuchten, sich gegenseitig zu trösten. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand und einfach nur die Leute anstarrte. Das rhythmische Schlagen einer Trommel riss mich aus meinen Gedanken, ich spitzte die Ohren. Dann senkte sich eine sekundenlange bedrückende Stille über den Platz. Die Trommeln schlugen erneut, Befehle wurden gebellt. Die Männer sollten sich von ihren Familien verabschieden. Männer, Frauen und Kinder umarmten sich daraufhin und brachen in herzzerreißendes Schluchzen aus. Ich stand auf dem überfüllten Platz und spürte Einsamkeit, Angst, Entsetzen. Noch heute bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich mir diese Szene vergegenwärtige. Nachts, in meinen Träumen, durchlebe ich sie wieder und wieder und wache jedes Mal schweißgebadet auf.
    Die Trommeln schlugen und schlugen, dann ertönte der Befehl: »Alle Männer
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