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Keine zweite Chance

Keine zweite Chance

Titel: Keine zweite Chance
Autoren: H Coben
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    Als die erste Kugel in meine Brust einschlug, dachte ich an meine Tochter.
    Das möchte ich zumindest glauben. Ich verlor ziemlich schnell das Bewusstsein. Und wenn man es ganz genau nimmt, erinnere ich mich nicht einmal mehr daran, dass auf mich geschossen wurde. Ich weiß, dass ich viel Blut verloren habe. Ich weiß, dass eine zweite Kugel meinen Kopf gestreift hat, obwohl ich da vermutlich schon bewusstlos war. Ich weiß auch, dass mein Herz aufgehört hat zu schlagen. Trotzdem möchte ich glauben, dass ich an Tara gedacht habe, als ich im Sterben lag.
    Zu Ihrer Information: Ich habe weder ein helles Licht noch einen dunklen Tunnel gesehen. Und falls doch, kann ich mich auch daran nicht mehr erinnern.
    Tara, meine Tochter, ist erst sechs Monate alt. Sie lag in ihrem Kinderbett. Ich frage mich, ob die Schüsse sie erschreckt haben. Müssen sie eigentlich. Wahrscheinlich hat sie angefangen zu weinen. Ich frage mich, ob das vertraute, durchdringende Geräusch ihrer Schreie irgendwie durch den Nebelschleier an mein Ohr gedrungen ist, ob ich es tatsächlich gehört habe. Aber auch daran kann ich mich nicht erinnern.
    Ganz genau hingegen erinnere ich mich an Taras Geburt. Ich weiß noch, wie Monica — Taras Mutter — all ihre Kraft zusammennahm und ein letztes Mal presste. Dann erschien ihr Kopf. Ich sah meine Tochter als Erster. Wir alle haben im Laufe unseres Lebens schon oft am Scheideweg gestanden. Wir wissen, dass man gelegentlich
eine Tür schließt, indem man eine andere öffnet. Wir kennen die Zyklen des Lebens und den Wechsel der Jahreszeiten. Aber der Augenblick, in dem das eigene Kind geboren wird … ist mehr als überirdisch. Man schreitet durch ein Portal wie bei Raumschiff Enterprise , durch einen voll funktionstüchtigen Realitäts-Transformer. Alles wird anders. Man verwandelt sich — ein einfaches Element kommt in Kontakt mit einem gewaltigen Katalysator und wird zu etwas viel Komplexerem. Das alte Universum ist verschwunden; es schrumpft — hier jedenfalls — auf dreitausendeinhundertfünfzig Gramm zusammen.
    Vaterschaft verwirrt mich. Ich weiß, nach nur sechs Monaten bin ich noch Amateur. Lenny, mein bester Freund, hat vier Kinder. Ein Mädchen und drei Jungen. Seine Älteste, Marianne, ist zehn, sein Jüngster gerade ein Jahr alt geworden. Wenn ich Lennys ewig mattes, aber glückliches Lächeln und den ständig Fast-Foodverklebten Boden seines Geländewagens sehe, wird mir bewusst, dass ich noch gar nicht mitreden kann. Das ist mir vollkommen klar. Aber wenn ich mich angesichts der vor mir liegenden Aufgabe, ein Kind zu erziehen, einmal so richtig verloren fühle oder Angst bekomme, brauche ich nur das hilflose Bündel in der Wiege anzusehen, und wenn Tara dann zu mir aufblickt, frage ich mich, was ich alles tun würde, um sie zu beschützen. Natürlich wäre ich ohne jedes Zögern bereit, mein Leben zu opfern. Und, um ehrlich zu sein, wenn es hart auf hart käme, selbstverständlich auch Ihres.
    Daher möchte ich glauben, dass ich, als die beiden Kugeln in meinen Körper eindrangen, als ich mit dem halb aufgegessenen Müsliriegel in der Hand auf das Linoleum des Küchenfußbodens sackte und in der sich ausbreitenden Lache meines eigenen Blutes lag, und sogar als mein Herz zu schlagen aufhörte, noch immer versucht habe, meine Tochter zu beschützen.

    Ich kam im Dunkeln wieder zu mir.
    Anfangs hatte ich keine Ahnung, wo ich war, doch dann piepte es rechts von mir. Ich kannte das Geräusch. Ich rührte mich nicht, lauschte nur den Pieptönen. Mein Gehirn fühlte sich zäh an, wie in Sirup eingelegt. Die erste Regung, die ich verspürte, war elementar: Durst. Ich wollte Wasser. Ich hätte nie gedacht, dass eine Kehle sich so trocken anfühlen könnte. Ich versuchte zu schreien, aber meine Zunge klebte in der ausgedorrten Mundhöhle.
    Eine Gestalt kam ins Zimmer. Als ich versuchte, mich aufzurichten, schoss ein heißer Schmerz wie ein Messerstich meinen Nacken hinab. Mein Kopf fiel nach hinten. Und wieder versank alles in Dunkelheit.

    Das nächste Mal erwachte ich am Tag. Grelle Sonnenstrahlen drangen zwischen den Lamellen der Jalousien hindurch ins Zimmer. Ich blinzelte. Ein Teil von mir verspürte den Drang, die Hand zu heben und das Licht von meinen Augen fern zu halten, aber die Erschöpfung hielt mich davon ab. Meine Kehle war noch immer knochentrocken.
    Ich hörte etwas, und plötzlich beugte sich eine Frau über mich. Ich erblickte eine Krankenschwester. Die ungewohnte Perspektive
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