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Weine ruhig

Weine ruhig

Titel: Weine ruhig
Autoren: Aliza Barak-Ressler
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desto mehr wurde uns bewusst, dass viele von Vaters Plänen, die uns zunächst völlig unmöglich erschienen waren,
    letztlich doch verwirklicht wurden. Nach und nach kamen wir zu dem Schluss, dass fast alles, was Vater vorhersagte, auch eintraf.
    Von der Dunkelheit ins Licht
    Als wir am nächsten Morgen aus unserer Höhle krochen, erfuhren wir, dass über Jarok eine Ausgangssperre verhängt worden war. Wir freuten uns über diese Nachricht, denn sie bedeutete, dass unsere »Steinzeit« zu Ende war. Wir baten einen der freundlichen Offiziere, unser feuchtes, stinkendes Loch verlassen zu dürfen. Wir erklärten ihm, dass uns eine der Familien im Dorf in dieser schweren Zeit geholfen habe und dass wir sie aufsuchen wollten. Der Offizier gab seine Einwilligung, wies uns aber an, bis zum Abend zu warten. Er befürchtete, dass wir von verirrten Kugeln getroffen werden könnten.
    Gegen Abend sammelten wir unsere wenigen Habseligkeiten zusammen - darunter die Petroleumlampe und die wertvolle Steppdecke -, verabschiedeten uns von dem jüdischen Offizier und seinen Kameraden und machten uns auf den Weg, eskortiert von zwei Soldaten. Wir warfen einen letzten Blick in das Loch, das uns so lange Zuflucht geboten hatte, und waren von tiefer Dankbarkeit erfüllt.
    Es dämmerte, als wir das Dorf erreichten. In der zunehmenden Dunkelheit sahen wir patrouillierende Soldaten, die über die Ausgangssperre wachten. Zielstrebig eilten wir zum Hause der Tokolys. Das Tor stand offen, und wir überquerten den Hof und klopften an die Haustür. Sie hatten uns schon kommen sehen und rissen die Tür auf. Wir überfielen sie mit Umarmungen und Küssen, weinten Tränen der Freude. Die Soldaten, die uns eskortiert hatten, wünschten uns alles Gute und gingen. Die drei Jungen gingen weiter zu Pavel, ihrem Wohltäter.
    Nachdem sich die erste Aufregung ein wenig gelegt hatte, fragten wir Vincent und Anna, ob wir baden dürften. Natürlich wollten wir uns waschen, ehe wir uns in ihrem Haus schlafen legten. Ihre einzige Tochter, Ela, die in Miriams Alter war, freute sich, dass sie beide in einem Bett schlafen durften. Nach dem Bad überraschten uns Anna und Vincent mit einem Festmahl aus allem, was sie hatten zusammentragen können. Wir saßen auf Stühlen an einem gedeckten Tisch - nachdem wir monatelang in der Höhle auf der Erde gehockt und gegessen hatten -, und das köstliche Essen war ein wahres Fest. Wir redeten stundenlang. Und wir dankten Gott und auch unseren Gastgebern, die uns so großzügig und unentgeltlich in höchster Not geholfen hatten.
    Wir vereinbarten, dass wir bis zur Befreiung Nitras bei ihnen bleiben würden. Wenn wir wieder in die Wohnung zurückgekehrt wären, in der wir bis zum 7. September 1944 gewohnt hatten, würden wir Kontakt zu ihnen aufnehmen und sie wieder besuchen kommen. Wir wollten uns so gern für all ihre Freundlichkeit und Großzügigkeit erkenntlich zeigen. Sie würden für immer in unseren Herzen bleiben. Wir freuten uns auch auf die erste Gelegenheit, uns bei dem Pfarrer des Dorfes für seine materielle und geistige Unterstützung bedanken zu können.
    Die Ausgangssperre wurde am nächsten Tag aufgehoben, und die Dorfbewohner durften wieder ihre Häuser verlassen. Alle machten sich zum Dorfplatz vor der Kirche auf, wo sie in kleinen Gruppen herumstanden, diskutierten und darüber spekulierten, was die Zukunft bringen mochte. Die Welt hatte sich verändert. Nichts mehr würde nach dem Ende des Krieges so sein wie früher.
    Der Pfarrer kam aus der Kirche und wurde sofort von den Dorfbewohnern umringt, die darauf warteten, ihm die Hand zu küssen. Es war das erste Mal, dass wir ihn sahen. Er strahlte eine innere Schönheit aus, und seine eindrucksvolle
    Gestalt war ein Spiegel seiner Seele. Wir reihten uns in die Schlange ein, und als wir an der Reihe waren, stellten wir uns vor. Der Pfarrer umarmte Vater und nannte ihn bei seinem Namen, Moritz. Seine Augen wurden feucht, und er schüttelte uns die Hände. Wir brachten unsere tiefe Dankbarkeit für seine Hilfe zum Ausdruck, und er erwiderte, er danke uns, dass wir ihm die Möglichkeit gegeben hätten, uns zu helfen, obwohl er überzeugt sei, dass er nicht genug getan habe. Die Gläubigen waren überrascht, mit welcher Herzlichkeit ihr Pfarrer zu den Juden sprach. Er faltete die Hände und segnete uns. In seinem Namen und im Namen seiner Gemeinde bat er um Vergebung für das Unrecht und das Leid, das den Juden widerfahren war, nicht zuletzt wegen der
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