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Wege im Sand

Wege im Sand

Titel: Wege im Sand
Autoren: Luanne Rice
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finden, tröstliche Worte. Sie hätte gerne gefragt, was Emma widerfahren war. Aber sie hatte Angst, etwas Falsches zu sagen. Ihre Mutter war ebenfalls gestorben, als sie noch ein Kind war, und sie erinnerte sich an die Erwachsenen, die in ihrer eigenen Welt lebten und es gut meinten, aber alles nur noch schlimmer zu machen schienen.
    Abgesehen davon, war Stevie eine Einsiedlerin. Sie schrieb Bücher und malte, meistens in aller Stille. So war es nicht immer gewesen; es hatte viel Liebe in ihrem Leben gegeben, und Männer, und die Kinder der Männer. Doch nun lebten Tilly und sie alleine, und lange Zeit hatte ihr diese Form der Zweisamkeit genügt. Daher hielt sie die Teetasse in der Hand und wartete, bis Nell das Wort ergriff. Es dauerte ein paar Minuten, und während dieser Zeit lauschte sie den Geräuschen des Frühsommers, die durch die geöffneten Fenster drangen: die kleinen Wellen, die sich am Strand brachen, die Finken, die im Liguster sangen, ein Eichhörnchen, das in der hohlen Eiche schnatterte.
    Nell nahm einen Keks und wischte sich wohlerzogen die Finger und den Mund an der rosafarbenen Leinenserviette ab, dann hob sie den Blick. Sie war fast neun, sehr dünn, hatte schulterlange braune Haare, die von Blümchen-Haarspangen aus dem Gesicht gehalten wurden, und riesige grüne Augen.
    »Meine Mutter sagte, Sie wären ihre beste Freundin gewesen.«
    »Du darfst mich duzen, wenn du möchtest … Oh ja, wir waren Freundinnen. Die allerallerbesten Freundinnen.«
    »Madeleine auch?«
    »Maddie Kilvert!« Stevie lachte. »Ja, wir drei waren unzertrennlich. Emma – deine Mutter – und ich kannten uns schon vorher. Ihre Familie hatte hier ein Cottage, genauso lange wie meine Familie – seit frühester Kindheit. Und dann kam Maddie daher … ab da waren wir richtig dick befreundet. Alle drei, drei Sommer lang …« Plötzlich fielen ihr die Worte wieder ein: »›Drei Sommer, so lang wie drei lange Winter …‹« Sie sah Nells friedlichen Gesichtsausdruck, als das Mädchen die Augen schloss, um zu lauschen, offenbar kannte sie den Ausspruch. »Hat deine Mutter dir erzählt, dass wir diese Zeile bei Wordsworth abgekupfert haben?«
    »Bei einem berühmten Dichter, sagte sie. Ihr wolltet zum Ausdruck bringen, wie lang die Winter ohne die allerbesten Freundinnen, die Beachgirls, waren.«
    »Die Beachgirls, richtig!« Stevie war begeistert, dass eine weitere gute Erinnerung aus den Winkeln ihres Gedächtnisses auftauchte. »So nannten wir uns. Weil wir immer selig waren, wenn wir am Strand waren und unsere Füßchen im Salzwasser hatten … wir konnten die Wintermonate kaum ertragen, so getrennt voneinander. Unsere Telefonrechnungen waren horrend. Oft fing ich die Post ab, und bevor mein Vater die Bescherung zu Gesicht bekam, rief ich Emma und Madeleine an, um Kriegsrat zu halten. Einmal war ich sogar gezwungen, Kleider von mir zu verkaufen!«
    »Nein!«
    »Doch! Die Frau, bei der ich als Babysitter arbeitete, kaufte mir zwei brandneue Pullover und ein Paar Stiefel ab; das Geld bekam mein Vater, als Anteil an der Telefonrechnung. Gott sei Dank gab es damals noch keine Konferenzschaltungen, denn das wäre unser finanzieller Ruin gewesen.«
    »Habt ihr weit voneinander entfernt gewohnt?«
    Stevie nickte. »Damals kam es uns zumindest so vor. Im Winter lebte ich in New Britain, Maddie in Hartford und deine Mom in New Haven. Wenn der Sommer endlich Einzug hielt, trafen wir uns alle hier, an dem Ort, dem wir uns zugehörig fühlten – Hubbard’s Point.«
    »Tante Maddie lebt jetzt in Rhode Island.«
    »Deine Tante …« Stevie verstummte, zählte zwei und zwei zusammen. »Deine Mutter hat Jack geheiratet!«
    Nell nickte. »Wusstest du das nicht?«
    Stevie unterdrückte einen Seufzer. Wie erklärte man einem unbedarften neunjährigen Mädchen, was für ein verrücktes, wechselhaftes Leben sie geführt hatte, mit seiner ganzen Vielschichtigkeit, den Ausrutschern, dem Chaos, den Trennungen – dem Verlust alter Kontakte? »Nein, das wusste ich nicht«, erwiderte sie. »Als die Beachgirls aufs College wechselten, trennten sich unsere Wege. Wir verloren uns aus den Augen.«
    »Mom und Tante Maddie sind in Verbindung geblieben. Sie trafen sich oft, weil Mom ihren Bruder heiratete. War er auch für die Beachgirls eine Art Bruder? Ein ›Beachboy‹?«
    Stevie lachte. »So funktionierte das nicht, Nell. Wir waren uns selbst genug – sonderten uns vom Rest der Welt ab. Abgesehen davon war er vier Jahre älter als
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