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Wege im Sand

Wege im Sand

Titel: Wege im Sand
Autoren: Luanne Rice
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blauen Himmel von Newport ab. Jack betrachtete das hoch aufragende Bauwerk, das himmelwärts strebte. Der Kirchturm glich einem Pfeil, der ihm den Weg wies. In Richtung Wolken, seinen Träumen entgegen. Er sah darin eine Botschaft von Emma – die ihm sagte, dass sie über Nell wachen und immer da sein würde, wenn ihre Tochter sie brauchte. Jack wusste es, so klar, als hätte sie es ihm ins Ohr geflüstert.

    Auf dem Gehsteig vor St. Mary’s war es Stevie und Nell gelungen, Henry zu beruhigen. Der Duft der Klettertrompeten und spät blühenden Petunien wehte zu ihnen herüber – eine Aromatherapie für den nervösen Bräutigam. Wenn es an der Zeit war, würde er hineingehen, neben dem Altar Aufstellung nehmen und auf seine zukünftige Frau warten. Die ersten Autos trafen ein, mit Doreen, ihrer verheirateten Brautführerin und ihrer Brautjungfer. Tante Aida fuhr gleich darauf vor.
    Nun war die Zeit gekommen. Orgelmusik von Bach erklang durch die Kirchentüren. Wo waren Jack und Madeleine? Nell wurde unruhig. Sie lief auf dem Gehsteig hin und her, verrenkte sich den Hals. Stevie versuchte, sie abzulenken, sprach mit ihr über das, was sie bereits für Der Tag, als das Meer schwarz wurde erarbeitet hatte. Aber Nell konnte sich nicht konzentrieren.
    Wahrscheinlich befürchtete sie, dass Jack und Madeleine in einen Streit geraten waren, sich gegenseitig Vorhaltungen gemacht oder ihre Wut am anderen ausgelassen hatten. Nell wurde mit jeder Minute blasser. Sie rang die Hände und kaute auf den Lippen, bis sie blutig waren.
    »Mach dir keine Sorgen, es ist alles in Ordnung«, sagte Stevie sanft.
    »Woher weißt du das?«
    »Ich weiß es einfach. Es ist an der Zeit.«
    »Aber was macht dich so sicher?«, fragte Nell so heftig, dass Stevie erschrocken innehielt. Sie wollte ganz sicher sein, bevor sie antwortete.
    Sie dachte an ihr eigenes Leben. Sie war eine Einsiedlerin gewesen, hatte sich auf Tilly, die ihr Gesellschaft leistete, und ihre Arbeit konzentriert. Sie hatte ihre ganze Liebe, Leidenschaft und Lebensfreude auf die Vögel gerichtet, die sie zeichnete, auf die Geschichten, die sie schrieb. Das »Betreten verboten«-Schild hatte so lange an ihrer Treppe, in ihrem Garten gestanden, dass sich Kletterpflanzen um den Pfosten rankten. Es war ein Teil ihres Hauses gewesen, wie die Eingangstür, Tillys Bett, ihre Staffelei.
    Doch eines Tages – wie der Blitz aus heiterem Himmel – war Stevie bereit gewesen, etwas zu ändern, das Schild zu entfernen. Sie hätte diese Entscheidung nicht eher treffen können – keinen einzigen Tag, keine einzige Minute früher.
    »Kennst du dich mit Tulpen aus?«
    »Das sind hübsche Blumen«, sagte Nell.
    »Richtig. Und sie wachsen aus Zwiebeln.«
    »Ich weiß. Ich habe meiner Mutter geholfen, sie in unserem Garten zu pflanzen.«
    »Dann weißt du auch, dass sie im Herbst gesetzt werden. Man gräbt ein tiefes Loch, legt die Tulpenzwiebeln hinein, füllt die Erde wieder auf und drückt sie fest. Sie befinden sich tief unten in der Erde, ruhen den ganzen Winter. Es schneit, und der Boden gefriert, vom fallenden Laub bedeckt. Die Zugvögel haben sich alle auf den Weg nach Süden begeben.«
    »Die Kolibris …«
    »Die Kolibris sind in weiter Ferne, wo es warm ist und die Sonne scheint. In dem Garten, wo die Tulpenzwiebeln gepflanzt wurden, ist es eisig. Der Himmel ist grau, und man könnte meinen, der Schnee oder eiskalte Regen würde nie mehr aufhören.«
    »Der Winter dauert ewig«, flüsterte Nell.
    »Aber eines vergessen wir: Es hat nur den Anschein, als würde der Winter ewig dauern. Denn genau in dem Moment, wenn uns entfallen ist, dass wir die Tulpenzwiebeln gepflanzt haben, tauchen eines Tages die ersten Knospen auf. Sie bahnen sich ihren Weg durch die Erde, die noch vor wenigen Wochen gefroren war.«
    Nell nickte, hörte aufmerksam zu.
    »Genauso ist es bei deinem Vater und deiner Tante.«
    Doch als die Orgelmusik von Bach lauter wurde und Doreen und Aida sich anschickten, die Kirche zu betreten, wurde es Stevie mulmig zumute. Was war, wenn sie sich irrte? Wenn Jacks Wut oder Madeleines Schmerz zu tief verwurzelt waren?
    Und genau in diesem Augenblick sah Stevie die beiden um die Ecke biegen und die Spring Street entlangeilen. Als sie am Fuß der Treppe ankamen, war die Hochzeitsgesellschaft endlich zum Einzug in die Kirche bereit.
    Madeleine küsste Nell auf den Scheitel, schenkte Stevie ein strahlendes Lächeln und legte Jacks Hand in die ihrer Freundin.
    »Von Beachgirl
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