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Wege im Sand

Wege im Sand

Titel: Wege im Sand
Autoren: Luanne Rice
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unvergleichlichen Fähigkeit bestand, völlig reglos und gleichzeitig in fortwährender Bewegung zu sein. Tilly gelüstete es einfach nur danach, einen Kolibri einzufangen.
    Stevie wusste nicht, was sie ohne Tilly angefangen hätte. Die Katze war seit langer Zeit ihre ständige Begleiterin, in guten wie in schlechten Tagen. Tilly hatte ihr in mehr einsamen Nächten Gesellschaft geleistet, als sie zu zählen vermochte. Sie liebte ihre Katze und seufzte, als sie sah, wie die Kolibris plötzlich davonstoben. Ihr Blick wanderte zur Treppe hinüber, wo sie ein Mädchen ausmachte, das den Hügel hinauflief.
    »Tilly, lernt man in der Schule heutzutage nicht mehr lesen?« Sie überlegte, ob vielleicht ihre Nemesis, in Gestalt der halbwüchsigen Nachbarsjungen, wieder einmal ihr Schild stibitzt hatte.
    Die Katze hatte die nahende, fremd anmutende Gestalt ebenfalls entdeckt und sprang auf den Kühlschrank, um in einem Brotkorb Deckung zu suchen. Stevie erhob sich. Sie wischte Katzenhaare von ihrem schwarzen T-Shirt und den langen, bequemen Hosen. Das Mädchen war allem Anschein nach fest entschlossen, den Weg fortzusetzen, und so ergriff Stevie, um ein strenges und imposantes Erscheinungsbild bemüht, ihren Panamahut und setzte ihn auf, einen Bruchteil von Sekunden bevor sie das Kind auf den Felsen stolpern und stürzen sah.
    Stevie lief nach draußen. Das Mädchen kauerte auf dem Boden, versuchte sich hochzurappeln. Die Knie und der große Zeh bluteten. Stevie zögerte einen Moment, gerade so lange, dass das Mädchen die Möglichkeit hatte, den Blick zu heben. Ihre grünen Augen wirkten eingefallen, überflutet von Schmerz, ein Anblick, der einen Strom unerwarteter, unbekannter Gefühle in Stevie auslöste.
    »Alles in Ordnung?«, erkundigte sie sich; noch bevor sie auch nur in die Hocke gehen konnte, nickte das Mädchen heftig, und Tränen liefen über ihre Wangen.
    »Sie sind es, Sie sind es wirklich.« Die Stimme des Mädchens war zittrig und rau.
    »Du liest meine Bücher«, sagte Stevie, in der Annahme, das Kind sei auf den Berg gepilgert, um die Verfasserin von Eulennacht, Sommer der Schwäne oder Seeadler kennen zu lernen, aber das Mädchen sah an ihr vorbei, durch sie hindurch, als erblickte sie einen Geist.
    »Meine Mutter kannte Sie«, erwiderte das Mädchen mit unverkennbarem Südstaatenakzent.
    »Deine Mutter?«
    »Emma Lincoln. So hieß sie vor ihrer Heirat mit meinem Vater.«
    »Na so was«, sagte Stevie sanft. Der Name stammte aus einer Zeit, die weit zurücklag. Erinnerungen überfluteten sie, klar und licht wie der Sonnenschein, Erinnerungen, die bis in die früheste Kindheit zurückreichten, Erinnerungen an Mädchen, die gemeinsam schwimmen gelernt hatten. »Wie geht es Emma?«
    »Sie ist tot.«
    Der Himmel wechselte die Farbe. Wirklich und wahrhaftig. Das Blau verblasste um einige Schattierungen, als die Worte einsanken. Emma tot – wie hatte das geschehen können, und warum hatte sie nichts davon erfahren? Eine leichte Brise ließ die Blätter über ihren Köpfen rascheln; als Stevie in die Augen des kleinen Mädchens blickte, hätte sie schwören mögen, Emma darin zu sehen.
    Sie streckte die Hand aus, die das Mädchen ergriff, ihre Handfläche war aufgeschrammt und verschwitzt. »Komm mit«, sagte Stevie. Und sie gingen ins Haus.

2. Kapitel
    N achdem Stevie die Hände und Knie des Mädchens gesäubert und verbunden hatte, kochte sie Tee, wie es ihre Mutter getan hätte. Sie stellte die Blue Willow-Tassen und Untertassen, die Zuckerdose mit dem braunen Würfelzucker und einen Teller mit Zitronencreme-Keksen auf den Tisch. Dann nahmen sie und das Mädchen – das Nell hieß – am Tisch vor dem steinernen Kamin Platz.
    »Deine Mutter und ich haben hier früher richtige Teepartys veranstaltet«, sagte sie.
    »Als Ihr Haus noch blau war?«
    »Ja.«
    Der Blick des Mädchens war aufmerksam, nahm alles wahr: die Korbsessel, den ausgeblichenen grünen Zweisitzer – die Arm- und Rücklehnen von Tilly und ihren Schwestern zerkratzt –, die Vogelillustrationen aus Stevies Büchern, die gesammelten Federn, Muscheln, Vogelnester und Knochen. Stevie betrachtete die Miene des Mädchens und wusste, dass Nell überlegte, wo ihre Mutter gesessen und welche Gegenstände sie angeschaut haben mochte. Stevie hatte sich die gleiche Frage gestellt, als sie in Nells Alter gewesen und den Spuren ihrer Mutter gefolgt war.
    Die beiden nippten eine Weile schweigend ihren Tee. Stevie versuchte, die richtigen Worte zu
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