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Wege im Sand

Wege im Sand

Titel: Wege im Sand
Autoren: Luanne Rice
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»Oooh – Entschuldigung!«
    »Sie ist ein bisschen schrullig. Sie ist alt.«
    »Ich verstehe.« Nell blickte sich in der Küche um, betrachtete die Skizzen und Aquarelle von Vögeln, Eichhörnchen, Kaninchen und Feldmäusen. »Stammen die aus deinen Büchern?«
    »Einige sind aus Büchern, die noch nicht geschrieben sind.« Stevie zögerte. »Hat deine Mutter dir jemals meine Bücher vorgelesen?«
    »Nein. Keine Ahnung, warum nicht«, sagte Nell entschuldigend. »Deine Bilder sind wirklich schön.«
    »Danke.« Stevie wunderte sich, dass Emma ihrer Tochter die Werke ihrer alten Freundin vorenthalten hatte. Sie öffnete die Hintertür, um Nell hinauszulassen, aber plötzlich drehte sich das Mädchen mit verzweifelter Miene um.
    »Der Grund für unseren Umzug nach Boston ist ähnlich wie der Grund, weswegen du dein Haus umgestrichen hast«, sagte sie.
    »Wirklich?«
    Nell nickte. »Weil in Atlanta alles wie immer war. Wie zu Moms Lebzeiten. Die Küche roch noch nach den Mahlzeiten, die sie zubereitet hatte, im Garten wuchsen ihre Pflanzen. Sie saß auf den Stühlen. Ihre Schuhe standen im Schrank. Die … die Bürste, mit der sie mir immer die Haare kämmte, lag noch am gleichen Platz.«
    Nell kniff die Augen zusammen. Stevie wusste, dass sie die Hand ihrer Mutter auf ihrem Kopf zu spüren meinte. Der Schmerz in ihrem Gesicht war ungezügelt und lebendig. Er sprang auf Stevie über, die wünschte, sie könnte ihn wegwischen, doch das entzog sich ihrer Macht. »Sie starb vor einem Jahr«, flüsterte Nell.
    »Es tut mir so Leid, Nell.«
    »Es ist zu schwer, dort zu bleiben, wo sie lebte. Deshalb mussten wir fort.«
    »Manchmal hilft das.« Stevie blickte das Mädchen an; es versetzte ihr noch heute einen Stich, wenn sie an den Verlust ihrer eigenen Mutter dachte, an den Winter in Paris, als ihr Vater ein Jahr unbezahlten Urlaub genommen hatte, und an die Sommerferien, als sie Hubbard’s Point nicht ertragen konnten und stattdessen nach Newport gefahren waren. Doch sie waren schließlich immer wieder zurückgekehrt.
    »Ob wir jemals nach Hause zurückkehren?«, fragte Nell auf einmal. Sie beugte sich unvermittelt vor, als wollte sie Stevies Hand ergreifen, und blickte sie eindringlich an, als wäre sie ein Orakel, als wüsste sie die Antwort auf all ihre Fragen.
    Stevie wollte das Richtige sagen – Emma zuliebe. Sie wollte die Gelegenheit nutzen, wollte klug und einfühlsam reagieren, um dem Kind ihrer Freundin zu helfen, diesen schrecklichen Augenblick durchzustehen. Sie sah wie durch einen Schleier, der sie voneinander trennte, und als Stevie blinzelte, liefen Tränen über ihre Wangen. Eingehüllt in ihren Kummer über den Verlust einer Freundin, die sie seit mehr als fünfundzwanzig Jahren nicht gesehen hatte, drohte ihr die Stimme zu versagen.
    »Wenn man einen Ort verlässt, den man liebt, muss das nicht für immer sein«, erwiderte sie schließlich. »Manchmal ist das die beste Lösung, und dann stellt man plötzlich fest, dass es an der Zeit ist heimzukehren.«
    »Heimkehren«, sagte Nell, sich an die Worte klammernd.
    »Bis dahin kann deine Tante dich und deinen Vater hier besuchen. Hubbard’s Point ist nicht weit von Rhode Island entfernt –«
    »Sie kann nicht kommen«, entgegnete Nell so scharf, dass Stevie erschrak. Sie suchte nach einem tröstlichen Wort.
    »Also, ich finde es klug, Atlanta eine Weile zu verlassen. Manchmal wirkt ein Ortswechsel wahre Wunder. Wenn ich zu lange an einem Ort bleibe, vergesse ich oft, wo ich mich hingetan habe.« Beide lächelten über die originelle Formulierung.
    »Wie jetzt zum Beispiel?«
    »Jetzt?«
    Nell hatte den braunen Schopf zur Seite geneigt, während ein breites Lächeln über ihre Lippen huschte. Sie stand auf Stevies Türschwelle und sah so selbstzufrieden aus wie ein kleiner brauner Zaunkönig.
    »Du hast bestimmt vergessen, dass du häufiger an den Strand gehen solltest«, sagte Nell. »Nicht nur vor Sonnenaufgang! Du liebe Zeit, da ist es ja noch stockfinster! Du brauchst Sonne und Wellen und heißen Sand unter den Füßen.«
    »Meinst du?«
    Nell nickte heftig, ernst und so inbrünstig, dass sie Stevie einmal mehr an einen kleinen braunen Zaunkönig erinnerte. »Und ob. Vor allem heißen Sand!«
    Dann bedankte sich Nell bei ihr, reichte ihr zum Abschied die Hand und trottete den Hügel hinunter. Als Stevie ihr nachsah, verspürte sie eine Reihe von Stichen, die sie sich nicht erklären konnte. Sie wusste nur, dass »Auf Wiedersehen« ein
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