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Wege im Sand

Wege im Sand

Titel: Wege im Sand
Autoren: Luanne Rice
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Getue darum zu machen. Weil meine Mutter …«
    »Weil alles andere im Vergleich zum Tod deiner Mutter nicht ins Gewicht fiel«, ergänzte Henry.
    Nell nickte. Stevie beobachtete die beiden, zwei von den Menschen, die sie auf der Welt am meisten liebte – den von Wind und Wetter gegerbten Marineoffizier und das neunjährige Mädchen, die auf den Kirchenstufen standen.
    »Aber es fällt ins Gewicht. Jemanden zu vermissen, den man liebt, gehört mit zum Schlimmsten, was einem Menschen widerfahren kann«, warf Stevie ein.
    Plötzlich sah sie, wie Henry die Spange des Purple-Hearts öffnete. Er bückte sich und heftete es an Nells Kleid.
    »Du schenkst es mir? Warum?«
    »Weil du es verdient hast. Du bist ein tapferer Seemann, Nell Kilvert.«
    »Danke.« Sie berührte das Ehrenabzeichen.
    »Ich wünschte, ich hätte noch einen, um ihn dir zu verleihen«, sagte Henry und blickte Stevie mit gerunzelter Stirn an.
    »Mir?«
    Er nickte. »All die Schiffbrüche, die du erlitten hast, Luocious. Du verdienst das Purple-Heart, weil du alle überlebt hast.«
    Sie lachte und blickte den Kirchturm hinauf, blinzelnd, um die Tränen zu verdrängen, die ihr plötzlich in die Augen stiegen. Er hatte Recht, in vielerlei Hinsicht. Ihr Herz hatte schwere Verletzungen davongetragen, sie hatte sich von der Welt abgeschottet. Sie hatte sich in ihrem geliebten Cottage verbarrikadiert, gemalt und Liebesgeschichten über Vögel geschrieben. Bis die Kilverts ihren Weg kreuzten.
    »Aber wenn ich es mir recht überlege, brauchst du kein Verwundetenabzeichen. Weil sich dein Herz in erstklassiger Verfassung zu befinden scheint«, meinte Henry.
    »Da muss ich dir Recht geben.« Sie stellte sich neben Nell.
    »Dann pass heute gut auf. Ich weiß, dass du mehrmals vor den Traualtar getreten bist, aber Doreen und ich werden dir jetzt zeigen, wie man es richtig macht. Du kennst doch das alte Sprichwort: Gut Ding will Weile haben.«
    »Redest du von dir oder von mir?«
    »Von uns beiden, meine Süße«, sagte Henry. »Du musst zugeben, dass wir bisher eine Höllenfahrt erlebt haben. Es ist an der Zeit, dass wir ruhige Gewässer ansteuern, in einem sicheren Hafen vor Anker gehen.«

    Jack und Madeleine hatten zugesehen, wie alle anderen den Gasthof in ihren Autos verließen.
    Die Kirche war zu Fuß nur zwanzig Minuten entfernt, an der Bellevue Avenue vorbei und den Memorial Boulevard entlang. Sie gingen zügig, wollten nicht zu spät kommen. Es war ein herrlicher Tag, wolkenlos und strahlend. Jack dachte an andere Septembertage, an denen er seine Schwester begleitet hatte – zur Schule, zum Goodwin Park, zum Tennisplatz. Die Erinnerung an diese Zeiten wurde mit jedem Schritt klarer.
    »Wie kommt es …«, begann er, genau in dem Moment, als sie sagte: »Wie kommt es, dass du hier bist …«
    Sie lachten. »Du zuerst«, meinte Madeleine.
    »Also gut. Wie kommt es, dass du hier warst, mit Stevie beim Essen, als Nell und ich ankamen?«
    »Ich hab da so meine Theorie. Aber sag mir zuerst, was du glaubst.«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich hatte das dringende Bedürfnis, euch beide wiederzusehen. Mit Henrys Hochzeit hatte ich einen Vorwand, an diesem Wochenende herzufliegen – Nell hätte mir sonst die Hölle heiß gemacht. Im Gasthof eröffnete uns Aida, dass Stevie unten am Strand sei, beim Essen. Sie zeigte mir das Restaurant unter dem Cliff Walk, und ich ging hin.«
    »Und da waren wir.«
    Jack nickte. »Alle beide.«
    »Als ich dein Gesicht sah, dachte ich: ›Er hasst mich und wird auf dem Absatz kehrtmachen.‹« Ihre Stimme brach.
    »Ich hasse dich nicht, Madeleine … ganz im Gegenteil …«
    »Es kam mir aber so vor. Und einen Großteil des vergangenen Jahres habe ich mich selbst gehasst.«
    »Warum?«
    »Du bist mein großer Bruder. Ich wusste, dass ich eine furchtbare Schuld auf mich geladen hatte, mein Verhalten unverzeihlich war, wenn nicht einmal du mir verzeihen konntest.«
    »Könnte es nicht sein, dass ich ein Narr war und einen Riesenfehler begangen habe?«
    »Du bist mein großer Bruder«, wiederholte sie; ihre Worte waren so schlicht und unbeirrt, dass sie Jack durch und durch gingen.
    »Mir gingen immer wieder dieselben Gedanken im Kopf herum – ich hätte Emma nicht auf den Wochenendausflug mitnehmen sollen, ich hätte Jack nichts sagen sollen, niemand hätte davon erfahren müssen … ich wusste nicht, ob du den Kontakt zu mir abgebrochen hast, weil Emma mich in ihr Geheimnis eingeweiht hatte … oder weil
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