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Washington Square

Washington Square

Titel: Washington Square
Autoren: Henry James
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– du weißt ja, du erinnerst dich doch – seiner stolzen, überlegenen Geisteshaltung. Ich glaube, er hat irgendwo in Europa eine Dame geheiratet. Du weißt ja, daß man in Europa so merkwürdig nüchtern heiratet; eine ›Vernunftehe‹ nennen sie das. Sie ist bald darauf gestorben; wie er mir sagte, ist sie lediglich durch sein Leben gehuscht. Er war seit zehn Jahren nicht mehr in New York; vor einigen Tagen ist er erst zurückgekommen. Das |272| erste, was er tat, war, mich nach dir zu fragen. Er hatte gehört, daß du nie geheiratet hast; das hat ihn offenbar sehr interessiert. Er sagte, du seist das einzig wahre Liebeserlebnis seines Lebens gewesen.«
    Catherine hatte ihre Gefährtin von Punkt zu Punkt und von Pause zu Pause fortfahren lassen, ohne sie zu unterbrechen; sie heftete ihre Augen auf den Boden und hörte zu. Aber auf die letzte von mir zitierte Wendung folgte eine besonders vielsagende Pause, und da sprach Catherine schließlich. Dabei ist zu beachten, daß sie vorher eine Fülle von Mitteilungen über Morris Townsend erhalten hatte. »Bitte sag’ nichts mehr; bitte führe dieses Thema nicht weiter.«
    »Interessiert es dich denn nicht?« fragte Mrs. Penniman mit einer gewissen ängstlichen Schalkhaftigkeit.
    »Es tut mir weh«, sagte Catherine.
    »Ich habe befürchtet, daß du das sagen würdest. Aber glaubst du nicht, du könntest dich daran gewöhnen? Er möchte dich so gern sehen.«
    »Bitte nicht, Tante Lavinia«, sagte Catherine und stand von ihrem Stuhl auf. Sie ging schnell weg zum andern Fenster, das zum Balkon hin offenstand; und hier, in der Fensterleibung, durch die weißen Vorhänge vor ihrer Tante verborgen, blieb sie lange Zeit und sah hinaus in die warme Dunkelheit. Ein schwerer Schlag hatte sie getroffen; es war, als hätte sich auf einmal der Abgrund der Vergangenheit aufgetan und eine gespenstische Gestalt wäre daraus aufgestiegen. Es gab da Dinge, von denen sie geglaubt hatte, sie habe sie überwunden, Gefühle, die sie für erloschen gehalten hatte; doch anscheinend war noch immer eine gewisse Lebenskraft in ihnen. Mrs. Penniman hatte sie wieder entfacht. Es war nur eine augenblickliche Erregung, sagte sich Catherine; sie würde gleich vorüber |273| sein. Sie zitterte und ihr Herz pochte so stark, daß sie es spüren konnte; aber auch das würde sich beruhigen. Dann auf einmal, während sie darauf wartete, daß ihre Ruhe zurückkehre, brach sie in Tränen aus. Doch ihre Tränen flossen ganz still, so daß Mrs. Penniman sie nicht bemerkte. Womöglich aber rechnete Mrs. Penniman mit ihnen und sagte daher an diesem Abend nichts mehr von Morris Townsend.

|274| 35. KAPITEL
    Mrs. Pennimans wiederbelebte Anteilnahme an diesem Herrn hatte nicht diejenigen Grenzen, die Catherine sich für sich wünschte; sie hielt lange genug an, um es ihr möglich zu machen, eine ganze Woche zu warten, bevor sie wieder von ihm sprach. Es erfolgte unter denselben Gegebenheiten, daß sie das Thema noch einmal aufgriff. Sie hatte am Abend mit ihrer Nichte zusammengesessen; nur brannte dieses Mal, weil der Abend nicht so warm war wie damals, die Lampe, und Catherine hatte sich mit einem Stückchen Häkelarbeit nahe daran gesetzt. Mrs. Penniman begab sich auf den Balkon und ließ sich dort für eine halbe Stunde allein nieder; dann kam sie herein und irrte im Zimmer umher. Schließlich sank sie mit gefalteten Händen und etwas erregtem Blick auf einen Stuhl nahe bei Catherine.
    »Ärgerst du dich, wenn ich noch einmal mit dir von
ihm
spreche?« fragte sie.
    Catherine sah gelassen zu ihr auf. »Wer ist
er

    »Er, den du einmal geliebt hast.«
    »Ich ärgere mich nicht, aber ich habe es nicht gern.«
    »Er hat eine Botschaft für dich«, sagte Mrs. Penniman. »Ich habe ihm versprochen, sie zu übermitteln, und mein Versprechen muß ich halten.«
    In all den Jahren hatte Catherine Zeit gehabt, zu vergessen, wie wenig sie ihr zur Zeit ihrer Misere zu danken gehabt hatte; schon seit langem hatte sie Mrs. Penniman verziehen, daß sie sich zuviel herausgenommen |275| hatte. Aber für einen Augenblick rief diese Pose des Vermittelns und der Uneigennützigkeit, dieses Überbringen von Botschaften und Einhalten von Versprechungen wieder den Eindruck in ihr wach, daß ihre Gefährtin eine gefährliche Frau war. Sie hatte gesagt, sie würde sich nicht ärgern; aber für einen Augenblick war sie verärgert. »Es ist mir vollkommen gleichgültig, was du mit deinem Versprechen anfängst!« entgegnete sie.
    Doch
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