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Washington Square

Washington Square

Titel: Washington Square
Autoren: Henry James
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weiterhin für eine reizvolle Menschensorte hält.« Den umfangreichen Rest seines Vermögens hatte Dr. Sloper daher in sieben ungleiche Beträge geteilt, die er ebenso vielen verschiedenen Krankenhäusern und medizinischen Fakultäten in verschiedenen Städten der Union als Stiftung hinterließ.
    Mrs. Penniman hielt es für abwegig, daß ein Mann mit dem Geld anderer Leute solche tollen Stücke unternahm, denn nach seinem Tod gehörte es, wie sie sagte, natürlich anderen Leuten. »Selbstverständlich wirst du das Testament unverzüglich anfechten«, äußerte sie zu Catherine.
    »O nein«, erwiderte Catherine, »es gefällt mir sehr gut. Ich würde lediglich wünschen, es wäre ein wenig anders ausgedrückt!«

|267| 34. KAPITEL
    Es war ihre Gewohnheit, bis weit in den Sommer hinein in der Stadt zu bleiben; sie zog das Haus am Washington Square jeder Wohnung auf der ganzen Welt vor, und nur widerwillig pflegte sie den August über ans Meer zu fahren. An der See verbrachte sie ihren Monat in einem Hotel. Im Jahr, in dem ihr Vater starb, setzte sie mit dieser Gewohnheit aus, weil sie es mit ihrer tiefen Trauer für unvereinbar hielt; und im Jahr darauf schob sie ihre Abreise so lange hinaus, daß sie Mitte August immer noch in der glühendheißen Einsamkeit des Washington Square anzutreffen war. Mrs. Penniman, die Abwechslung liebte, war gewöhnlich voll Ungeduld, für einige Zeit aufs Land zu kommen; aber in diesem Jahr schien sie ganz zufrieden zu sein mit denjenigen ländlichen Eindrücken, die sie am Salonfenster von den Götterbäumen hinter dem Holzzaun gewinnen konnte. Der charakteristische Duft dieser Anpflanzung verströmte sich in die Abendluft, und Mrs. Penniman saß an warmen Juliabenden häufig am offenen Fenster und sog ihn ein. Das waren glückliche Tage für Mrs. Penniman; nach dem Tod ihres Bruders fühlte sie sich freier, ihren Impulsen folgen zu können. Ein unbestimmter Druck war aus ihrem Leben geschwunden, und sie genoß ein Gefühl von Freiheit, das sie nicht mehr erfahren hatte seit der denkwürdigen, so weit zurückliegenden Zeit, als der Doktor mit Catherine ins Ausland gereist war und sie zu Hause gelassen hatte, wo sie sich gastlich Morris Townsends annahm. |268| Das Jahr, das seit dem Tod ihres Bruders verstrichen war, erinnerte sie an jene glückliche Zeit, weil Catherine, obwohl sie mit zunehmendem Alter eine eigenständige Persönlichkeit geworden war, was man berücksichtigen mußte, doch ein ganz anderer Umgang war als der, wie Mrs. Penniman sagte, mit einer Wanne voll kaltem Wasser. Die ältere Dame wußte kaum, welchen Gebrauch sie von diesem erweiterten Lebensspielraum machen sollte; sie saß da und schätzte ihn ab, ganz so wie sie schon oft dagesessen und die Sticknadel unentschlossen vor dem Stickrahmen in der Hand gehalten hatte. Sie hegte indes die zuversichtliche Hoffnung, daß ihre vielfältigen Impulse, ihr Talent fürs Ausschmücken noch einmal ihre Anwendung finden würden, und diese Zuversicht fand ihre Rechtfertigung, als noch gar nicht viele Monate verstrichen waren.
    Catherine wohnte weiterhin im Haus ihres Vaters, obgleich man ihr bedeutete, eine ledige Dame von ruhiger Lebensweise könnte eine angemessenere Bleibe finden in einer der kleineren Wohnstätten mit braunen Steinfassaden, die damals die Querstraßen im oberen Teil der Stadt zu zieren begannen. Ihr war das ältere Gebäude lieber – zu dieser Zeit hatte man bereits begonnen, es als »altes« Haus zu bezeichnen – und sie hatte die Absicht, ihre Tage in ihm zu beschließen. Wenn es für zwei anspruchslose Damen zu groß war, so war das jedenfalls besser als das gegenteilige Mißverhältnis; denn Catherine hatte kein Verlangen, mit ihrer Tante zusammen räumlich eingeschränkter zu wohnen. Sie erwartete, den Rest ihres Lebens am Washington Square zu verbringen und diese ganze Zeitspanne über Mrs. Pennimans Gesellschaft zu genießen; denn sie war überzeugt, wie lange sie auch leben mochte, ihre Tante würde mindestens ebenso lange |269| leben und ständig ihre Wendigkeit und Rührigkeit bewahren. Mrs. Penniman erweckte in ihr die Vorstellung unermeßlicher Lebenskraft.
    An einem jener warmen Juliabende, die bereits erwähnt wurden, saßen die Damen bei offenem Fenster zusammen und blickten auf den stillen Platz hinaus. Es war zu heiß, um Lampen anzuzünden, zu lesen oder zu arbeiten; es hätte selbst für eine Unterhaltung zu heiß scheinen können, da Mrs. Penniman lange Zeit stumm geblieben war. Sie
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