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Washington Square

Washington Square

Titel: Washington Square
Autoren: Henry James
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saß vorn an der Glastür, halb auf dem Balkon, und summte ein kleines Lied. Catherine saß weiß gekleidet im Zimmer in einem niedrigen Schaukelstuhl und bediente sich gemessen eines großen Zwergpalmblattfächers. In dieser Art verbrachten zu dieser Jahreszeit Tante und Nichte, nachdem sie den Tee genommen hatten, gewöhnlich ihre Abende.
    »Catherine«, sagte Mrs. Penniman schließlich, »ich möchte dir etwas sagen, was dich überraschen wird.«
    »O bitte«, erwiderte Catherine. »Ich liebe Überraschungen. Es ist jetzt ohnehin so ruhig.«
    »Also dann, ich habe Morris Townsend gesehen.«
    Falls Catherine überrascht war, vermied sie, es zu äußern; sie fuhr weder zusammen noch tat sie einen Ausruf. Allerdings blieb sie eine kleine Weile völlig regungslos, und das könnte sehr wohl ein Zeichen von Gemütsbewegung gewesen sein. »Ich hoffe, er war wohlauf«, sagte sie schließlich.
    »Ich weiß nicht; er hat sich stark verändert. Er möchte dich sehr gern sehen.«
    »Ich möchte ihn lieber nicht sehen«, sagte Catherine geschwind.
    »Ich habe befürchtet, daß du das sagen würdest. Aber du scheinst gar nicht überrascht zu sein!«
    |270| »Ich bin es aber – sogar sehr.«
    »Ich habe ihn bei Marian getroffen«, sagte Mrs. Penniman. »Er geht dort ein und aus, und sie befürchten so sehr, daß du ihm da begegnest. Ich glaube, das ist der Grund, warum er dorthin geht. Er möchte dich so gern sehen.« Catherine gab keine Antwort darauf, und Mrs. Penniman fuhr fort. »Ich habe ihn erst gar nicht erkannt, er hat sich so auffallend verändert; aber er hat mich gleich erkannt. Er sagt, ich hätte mich nicht im geringsten verändert. Du weißt ja, wie höflich er immer war. Er wollte gerade gehen, als ich kam, und wir gingen ein kleines Stück miteinander. Er sieht immer noch sehr gut aus, nur älter natürlich, und er ist nicht mehr so – so lebhaft, wie er früher gewöhnlich war. Er hatte einen Hauch von Traurigkeit an sich; aber so einen Hauch von Traurigkeit hatte er schon früher an sich, vor allem als er fortging. Ich fürchte, er ist nicht sehr erfolgreich gewesen – er hat sich nie fest niedergelassen. Ich vermute, er plagt sich nicht genug, und das ist es ja schließlich, was in der Welt Erfolg bringt.« Mrs. Penniman hatte Morris Townsends Namen ihrer Nichte gegenüber mehr als ein Fünfteljahrhundert lang nicht mehr erwähnt; aber nachdem sie jetzt den Bann gebrochen hatte, wollte sie offenbar verlorene Zeit wieder aufholen, als wäre es für sie eine Art Aufheiterung, sich über ihn reden zu hören. Sie fuhr indes mit beträchtlicher Umsicht fort, indem sie gelegentlich eine Pause machte, damit Catherine irgendein Zeichen von sich geben könne. Doch Catherine gab kein anderes Zeichen, als daß sie mit dem Schaukeln ihres Stuhls und dem Wedeln ihres Fächers einhielt; regungslos und schweigend saß sie da. »Es war am vorigen Dienstag«, sagte Mrs. Penniman, »und seitdem habe ich ständig gezögert, dir davon zu erzählen. Ich wußte nicht recht, wie du es aufnehmen würdest. |271| Schließlich dachte ich mir, es sei schon so lange her, daß du wahrscheinlich keine besonderen Gefühle mehr dabei empfinden würdest. Nachdem ich ihm bei Marian begegnet bin, habe ich ihn noch einmal gesehen. Ich traf ihn auf der Straße, und er ging ein paar Schritte mit mir. Das erste, was er sagte, hatte mit dir zu tun. Er stellte mir dauernd eine Menge Fragen. Marian wollte nicht, daß ich dir etwas davon sage; sie wollte, du solltest nicht erfahren, daß sie ihn bei sich empfangen. Ich sagte ihm, ich sei mir sicher, daß du nach all den Jahren deswegen kaum mehr irgend etwas empfinden würdest; du könntest ihm ja nicht die Gastfreundschaft im Haus seines eigenen Vetters mißgönnen. Ich sagte, daß du in der Tat verbittert sein müßtest, wenn du das tätest. Marian hat die eigenartigsten Vorstellungen von dem, was zwischen euch war; sie meint offenbar, er habe sich in irgendeiner Art höchst ungewöhnlich verhalten. Ich nahm mir die Freiheit, sie an den wahren Sachverhalt zu erinnern und die Geschichte ins rechte Licht zu rücken. Er persönlich empfindet keine Bitterkeit, Catherine, das kann ich dir versichern; und bei ihm könnte man das entschuldigen, da es ihm nicht gut ergangen ist. Er hat die ganze Welt durchstreift und versucht, sich irgendwo niederzulassen; aber sein Unstern war gegen ihn. Es ist ungemein fesselnd, ihn von seinem Unstern erzählen zu hören. Alles ging in die Brüche; alles außer seiner
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