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Washington Square

Washington Square

Titel: Washington Square
Autoren: Henry James
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und war ihr sehr unangenehm. Doch wie konnte sie ihn willkommen heißen, wenn sie so lebhaft fühlte, daß er eigentlich nicht hätte kommen sollen? »Ich wünschte so sehr – ich war entschlossen«, fuhr Morris fort. Aber er stockte erneut; es war nicht leicht. Catherine sagte noch immer nichts, und er mochte sich wohl besorgt ihrer |278| alten Begabung zum Schweigen erinnern. Sie sah ihn indes unentwegt an und machte dabei eine höchst eigenartige Feststellung. Es schien er zu sein und doch wieder nicht er; es war der Mann, der alles für sie bedeutet hatte, und doch bedeutete ihr dieser Mensch jetzt nichts mehr. Wie lange war es doch her – wie alt war sie geworden – wie viele Jahre hatte sie doch gelebt! Sie hatte von etwas gelebt, das mit
ihm
zusammenhing, und dabei hatte sie es aufgezehrt. Dieser Mensch sah nicht unglücklich aus. Er war frisch und gut erhalten, tadellos gekleidet, gereift und ohne Einbußen ein ganzer Mann. Während Catherine ihn betrachtete, brachten seine Augen unmißverständlich die Geschichte seines Lebens zum Ausdruck; er hatte es sich annehmlich gemacht, und er hatte sich niemals festhalten lassen. Aber gerade in dem Augenblick, als sich ihre Einsicht dem eröffnete, hatte sie keinerlei Verlangen, ihn festzuhalten. Seine Gegenwart war ihr unangenehm, und sie wünschte nur, er würde gehen.
    »Willst du dich nicht setzen?« fragte er.
    »Ich glaube, es ist besser, das nicht zu tun«, sagte Catherine.
    »Ist dir mein Kommen unangenehm?« Er war sehr gesetzt; er sprach in einem Ton höchster Achtung.
    »Ich finde, du hättest nicht kommen sollen.«
    »Hat dir denn Mrs. Penniman nichts gesagt – hat sie dir meine Botschaft nicht bestellt?«
    »Sie hat mir einiges gesagt, aber ich habe es nicht verstanden.«
    »Ich wünschte, du würdest es
mich
sagen lassen – mich für mich selbst sprechen lassen.«
    »Ich glaube nicht, daß das nötig ist«, sagte Catherine.
    »Vielleicht nicht für dich, aber für mich. Es wäre mir eine große Freude – ich habe nicht viel Freude.«
    |279| Er schien näher zu kommen; Catherine wandte sich ab. »Können wir nicht wieder Freunde sein?« fragte er.
    »Wir sind nicht Feinde«, sagte Catherine. »Ich habe nichts als freundliche Gefühle für dich.«
    »Ach, ich weiß nicht, ob du dir vorstellen kannst, wie glücklich es mich macht, dich das sagen zu hören!« Catherine machte keinerlei Andeutung, daß sie den Einfluß ihrer Worte abwog; und er fuhr unvermittelt fort: »Du hast dich nicht verändert – die Jahre sind glücklich für dich vergangen.«
    »Sie sind sehr ruhig vergangen«, sagte Catherine.
    »Sie haben keine Spuren hinterlassen; du bist bewundernswert jung.« Dieses Mal glückte es ihm, näher zu kommen – er war dicht bei ihr; sie sah seinen raffiniert duftenden Bart und darüber seine fremd und hart blickenden Augen. Es war sehr verschieden von seinem alten – seinem jungen Gesicht. Hätte sie ihn beim ersten Mal so gesehen, dann würde sie ihn wohl nicht so lieb gewonnen haben. Es kam ihr vor, als lächle er oder versuche zu lächeln. »Catherine«, sagte er mit gedämpfter Stimme, »ich habe nie aufgehört, an dich zu denken.«
    »Bitte sag’ so etwas nicht.«
    »Haßt du mich?«
    »O nein«, sagte Catherine.
    Irgend etwas in ihrem Ton entmutigte ihn, doch augenblicklich hatte er sich wieder gefaßt. »Dann hast du also noch etwas Entgegenkommen für mich?«
    »Ich weiß nicht, warum du hergekommen bist, um mich so etwas zu fragen!« entgegnete Catherine.
    »Weil es seit vielen Jahren der sehnliche Wunsch meines Lebens war, daß wir wieder Freunde würden.«
    »Das ist unmöglich.«
    »Wieso? Nicht, wenn du es zuläßt.«
    |280| »Ich will es nicht zulassen«, sagte Catherine.
    Er sah sie aufs neue schweigend an. »Ich verstehe; meine Gegenwart beunruhigt dich und ist dir unangenehm. Ich gehe; aber du mußt mir gestatten wiederzukommen.«
    »Bitte komm’ nicht wieder«, sagte sie.
    »Niemals? Niemals?«
    Sie gab sich große Mühe; sie wollte etwas sagen, das es unmöglich machen würde, daß er jemals wieder über ihre Schwelle käme. »Es ist unangebracht von dir. Es ist unangemessen – es gibt keinen Grund dafür.«
    »Ach, liebste Freundin, du tust mir unrecht!« rief Morris Townsend. »Wir haben doch nur gewartet, und jetzt sind wir frei.«
    »Du hast mich übel behandelt«, sagte Catherine.
    »Nicht, wenn du es recht bedenkst. Du hast dein friedliches Leben mit deinem Vater zusammen gehabt – und was ich nicht über mich
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