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Washington Square

Washington Square

Titel: Washington Square
Autoren: Henry James
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Mrs. Penniman mit ihrer hohen Auffassung von der Unverletzlichkeit eines Gelöbnisses, führte ihr Anliegen weiter aus. »Ich bin bereits zu weit gegangen für einen Rückzug«, sagte sie, obgleich sie sich nicht die Mühe machte, zu erklären, was das genau bedeuten sollte. »Mr. Townsend wünscht inständig, dich zu sehen, Catherine; er glaubt, wenn du wüßtest, wie sehr und warum er es wünscht, würdest du zustimmen.«
    »Es kann keinen Grund dafür geben«, sagte Catherine, »keinen guten Grund.«
    »Sein Glück hängt davon ab. Ist das kein guter Grund?« fragte Mrs. Penniman eindringlich.
    »Nicht für mich. Mein Glück hängt nicht davon ab.«
    »Ich glaube, du wirst glücklicher sein, nachdem du ihn gesehen hast. Er geht bald wieder fort – um sein Wanderleben wiederaufzunehmen. Es ist ein sehr einsames, rastloses, freudloses Leben. Bevor er aufbricht, möchte er mit dir sprechen; es ist eine fixe Idee von ihm – er denkt fortwährend daran. Er hat dir etwas äußerst Wichtiges zu sagen. Er glaubt, daß du ihn nie verstanden hast – daß du ihn nie richtig beurteilt hast, und diese Überzeugung hat dauernd schrecklich auf ihm gelastet. Er möchte sich gern rechtfertigen; er glaubt, daß er das mit ganz wenigen Worten tun könnte. Er möchte als Freund mit dir zusammentreffen.«
    |276| Catherine hörte sich diese wundervollen Ausführungen an, ohne in ihrer Arbeit innezuhalten; sie hatte jetzt mehrere Tage Zeit gehabt, sich daran zu gewöhnen, an Morris Townsend erneut als an etwas tatsächlich Gegenwärtiges zu denken. Als der Redefluß vorüber war, sagte sie lediglich: »Bitte sag’ Mr. Townsend, daß ich wünsche, er möchte mich in Ruhe lassen.«
    Kaum hatte sie das gesagt, als ein energisches Klingeln an der Haustür durch die Sommernacht hallte. Catherine sah zur Uhr auf; sie zeigte Viertel nach neun – eine reichlich späte Stunde für Besucher, vor allem jetzt bei dem menschenleeren Zustand der Stadt. Mrs. Penniman fuhr im selben Moment ein wenig zusammen, und da wandten sich Catherines Augen unversehens ihrer Tante zu. Sie begegneten denen Mrs. Pennimans und prüften sie einen Moment lang durchdringend. Mrs. Penniman wurde rot; ihr Blick war schuldbewußt; er schien etwas zu gestehen. Catherine erriet seine Bedeutung und fuhr geschwind von ihrem Stuhl auf.
    »Tante Penniman«, sagte sie in einem Ton, der ihrer Gefährtin Schrecken einjagte, »hast du dir
die Freiheit
herausgenommen …?«
    »Meine liebe Catherine«, stammelte Mrs. Penniman, »so warte doch ab, bis du ihn siehst!«
    Catherine hatte ihrer Tante Schrecken eingejagt, doch sie selbst war gleichfalls erschrocken; sie war im Begriff hinauszustürzen und dem Dienstmädchen, das eben zur Haustür ging, die Weisung zu geben, niemanden vorzulassen; doch die Befürchtung, ihrem Besucher zu begegnen, hielt sie zurück.
    »Mr. Morris Townsend.«
    Das war es, was sie hörte, undeutlich, aber doch verständlich, aus dem Mund der Hausangestellten, während |277| sie noch zauderte. Sie hatte der Salontür den Rücken zugewandt und blieb ein paar Augenblicke so stehen mit dem Gefühl, daß er eingetreten war. Er hatte indes noch nicht gesprochen, und schließlich wandte sie sich um. Da sah sie in der Mitte des Zimmers, aus dem sich ihre Tante diskret zurückgezogen hatte, einen Herrn stehen.
    Sie hätte ihn niemals erkannt. Er war fünfundvierzig Jahre alt, und seine Gestalt war nicht mehr die des straffen, schlanken jungen Mannes, den sie in Erinnerung hatte. Doch es war eine sehr stattliche Erscheinung, und ein hübscher, heller Bart, der sich über eine wohlgebildete Brust breitete, trug zu dieser Wirkung bei. Einen Augenblick darauf erkannte Catherine die obere Hälfte des Gesichts wieder, die immer noch auffallend gut aussah, auch wenn sein lockiges Haar lichter geworden war. Er stand in tief achtungsvoller Haltung da und hatte die Augen auf ihr Gesicht gerichtet. »Ich habe gewagt – ich habe gewagt«, sagte er; und dann hielt er inne und sah sich um, als erwarte er, daß sie ihn auffordere, Platz zu nehmen. Es war noch die alte Stimme; aber sie hatte nicht mehr den alten Zauber. Catherine war sich eine Weile darüber im klaren, daß sie fest entschlossen sei, ihm keinen Platz anzubieten. Warum war er denn gekommen? Es war unangebracht von ihm, zu kommen. Morris war in Verlegenheit, aber Catherine bot ihm keine Hilfe. Nicht, daß sie sich über seine Verlegenheit gefreut hätte; im Gegenteil, sie rief ihre eigene derartige Neigung hervor
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