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Was vom Tode übrig bleibt

Was vom Tode übrig bleibt

Titel: Was vom Tode übrig bleibt
Autoren: P Anders
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glaubt. Ich muss es wissen, denn ich bin nicht nur Tatortreiniger, sondern Berufsfeuerwehrler, und Feuerwehrler sind die, die die Toten in den meisten Fällen finden.
    Rund 240 000 Wohnungsöffnungen gibt es pro Jahr in Deutschland, 3000 allein in München, mehrere Hundert davon laufen auf der Feuerwehrwache Westend ein, bei der ich arbeite. Das heißt noch lange nicht, dass wir hinter jeder Tür einen Toten entdecken, meistens ist das sogar nicht der Fall. Manchmal hat jemand nur eine Herdplatte auszuschalten vergessen oder den Müll nicht ausgeleert, bevor er vier Wochen in den Urlaub gefahren ist, und die Nachbarn rufen, sobald sie den Qualm sehen oder den Gestank riechen, die Feuerwehr. Bei der Gelegenheit: Recht haben sie, dafür sind wir da, und selbst wenn wir keinen Toten finden, muss niemand etwas dafür bezahlen. Aber der Tod ist auch nicht gerade selten die Ursache für unseren Besuch: Er ist es in etwa jedem dritten oder vierten Fall, und das geht dann quer durch den Gemüsegarten, das sind Selbstmörder, Verunglückte, Getötete. Dennoch bin ich als Tatortreiniger nicht immer gefordert, normalerweise geht der Tod recht ordentlich vor. Da genügt dann der ganz normale Bestatter. Nur in drei Fällen ist das nicht ausreichend.
    Das ist zum einen, wenn Leute sich auf eine eher unschöne Art und Weise umbringen. Beim Suizid sind die Geschmäcker ja verschieden. Selbstmordkandidaten befassen sich mit dem Gedanken an Selbsttötung zwar meistens schon länger, aber den für sich richtigen Weg zu finden ist oft schwer. Wenn sie ihn jedoch gefunden haben, werden sie ihn auch nutzen– und dabei ist ihnen dann völlig egal, wie hinterher die Wohnung aussieht. Und die sieht nun mal bei einem Erhängten anders aus als bei jemandem, der beschließt, sich in den Kopf zu schießen oder sich die Pulsadern im Wohnzimmer zu öffnen oder die alte Handgranate aus dem Zweiten Weltkrieg vom Großonkel in seinem Schoß zu zünden. In einigen dieser Fälle ist es hinterher ganz sinnvoll, einen Tatortreiniger zu rufen.
    Der zweite Fall ist ähnlich, betrifft aber Gewaltverbrechen. Morde oder Amokläufe zum Beispiel. Das ist ja auch verständlich: Wenn ein Amokläufer durch eine Schule läuft, Dutzende Leute tötet, anschießt, wer soll denn hinterher die Spuren entfernen? Der Hausmeister, der am Ende genauso traumatisiert ist wie die Kinder und Lehrer? Undenkbar.
    Der dritte und für uns gängigste Fall ist allerdings, wenn der Tod seine Arbeit gemacht hat und vergisst, Bescheid zu sagen.
    Ein Toter schreit nicht. Er telefoniert nicht und er ruft nicht an. Er stirbt auch nicht immer bei einer lauten Explosion, sondern viel öfter an einem leisen Organversagen. Er sagt vielleicht noch » Upps!« und fällt auf den Boden. Und dabei fällt er auch nicht um wie ein Baum im Wald, mit einem gewaltigen Krachen, sondern eher rumpelig, wie ein Sack Kartoffeln. Das ist ein Geräusch, das in der Mietwohnung darunter gar nicht auffällt. Da sitzt der Mann vielleicht auf dem Sofa oder am Esstisch und sagt zu seiner Frau:
    » Hast du was gesagt?«
    Und die Frau sagt: » Nein, wieso?«, und dann hat man es schon wieder vergessen.
    Und wenn dem Sterbenden schwummrig wird, während er vielleicht ohnehin schon auf einem Sofa sitzt und gerade fernsieht, dann hört man am Esstisch unten drunter überhaupt nichts.
    Bei manchen dieser Verstorbenen nehmen dann andere dem Tod das Bescheidsagen ab. Da kommt irgendwann in den nächsten Tagen irgendjemand zu Besuch, das kann die Nichte sein, die Tochter, der Freund. Der Besuch klingelt an der Tür und der Sack Kartoffeln macht nicht auf, dann rufen die Nichte, die Tochter, der Freund an, aber der Kartoffelsack geht auch nicht ans Telefon, da meldet sich höchstens noch der Anrufbeantworter. Und nach einer Woche machen sich die Nichte, die Tochter, der Freund dann Sorgen und rufen die Feuerwehr. Bei manchen Toten kommt auch keine Nichte, keine Tochter, kein Freund, aber da kommt wenigstens der Postbote, oder sie haben vielleicht eine Zeitung abonniert, die nach wenigen Tagen unten den Briefkasten verstopft. Dann hilft dem Tod irgendwann der Hausmeister, wenn er jeden Tag über die Zeitungen stolpert. Aber es gibt eine Menge Leute, die keine Zeitung bekommen und keine Post und rein gar nichts. Die keine Nichte haben, keine Tochter, keinen Kumpel und keine alte Schulfreundin vom Kaffeekränzchen, die alle 14 Tage ihre ausgelesenen Klatschmagazine vorbeibringt. Und wenn das so ist, dann passiert in der Wohnung
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