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Nur ein kleiner Sommerflirt

Nur ein kleiner Sommerflirt

Titel: Nur ein kleiner Sommerflirt
Autoren: Simone Elkeles
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1
    Von einer Sekunde auf die andere können Eltern dein Leben umkrempeln.
    Wie kann es sein, dass ein relativ intelligentes sechzehnjähriges Mädchen in eine beschissene Situation gerät, aus der es nicht mehr herauskommt? Genau diese Frage stellt sich mir, als ich an einem Montagnachmittag während einer eindreiviertelstündigen Verzögerung am O’Hare International Airport von Chicago sitze und über die letzten vierundzwanzig Stunden meines verpfuschten Lebens nachdenke.
    Gestern hing ich in meinem Zimmer ab, als Ron, mein biologischer Vater, anrief. Nein, ihr versteht nicht, was ich meine … Ron ruft nie an. Außer an meinem Geburtstag – und der liegt schon acht Monate zurück.
    Nach ihrer Affäre mit Ron im College stellte meine Mutter nämlich fest, dass sie schwanger war. Sie stammt aus einem reichen Elternhaus und Ron … na ja, eben nicht. Auf Druck ihrer Eltern sagte Mom Ron, es wäre wohl das Beste, wenn er sich aus unserem Leben weitgehend raushalten würde. Damit lagen sie so was von daneben! Aber das Schlimmste ist, dass er mehr oder minder kampflos aufgab.
    Ich weiß, dass er ein Konto für mich eingerichtet hat, und am Geburtstag führt er mich zum Essen aus. Aber das ist mir egal. Ich will einen Vater, der immer für mich da ist.
    Früher ließ er sich öfter blicken, aber irgendwann habe ich ihm gesagt, er soll mich in Ruhe lassen, damit meine Mom einen richtigen Vater für mich finden kann. Dabei habe ich es eigentlich gar nicht so gemeint – ich wollte ihn nur testen. Und er ist mit Pauken und Trompeten durchgefallen.
    Und jetzt ruft der Typ einfach an und sagt meiner Mom, er will mich nach Israel mitnehmen. Israel! Ihr wisst schon, dieses kleine Land im Nahen Osten, das so viel Kontroversen verursacht. Man muss nicht täglich die Nachrichten verfolgen, um zu wissen, dass Israel der Nährboden für internationale Konflikte ist.
    Aber ich schweife ab, kommen wir wieder zum Thema zurück. Meine Mom reicht mir das Telefon weiter – ohne jegliche Vorwarnung wie Es ist dein Vater oder Es ist der Typ, mit dem ich einen One-Night-Stand hatte, den ich aber nicht heiraten mochte.
    Ich kann mich noch genau an seine Worte erinnern: »Hi, Amy. Ich bin’s, Ron.«
    »Wer?«, frage ich.
    Ich will ja kein Klugscheißer sein, es überstieg nur einfach meine Vorstellungskraft, dass der Kerl, der für fünfzig Prozent meiner Gene verantwortlich zeichnet, mich tatsächlich anruft.
    »Ron … Ron Barak«, sagt er etwas lauter und langsamer – als wäre ich beschränkt.
    Ich erstarre und sage erst mal gar nichts. Ob ihr es glaubt oder nicht, manchmal ist es sogar von Vorteil, wenn man keinen Ton rausbekommt. Das weiß ich aus jahrelanger Erfahrung. Es macht die anderen nervös, lockt sie aus der Reserve – und was soll ich sagen: besser sie als mich. Ich schnaufe laut, damit er weiß, dass ich noch dran bin.
    »Amy?«
    »Ja?«
    »Äh, ich wollte dir nur Bescheid geben, dass deine Großmutter krank ist.« Grandmudder sagt er mit seinem israelischen Akzent.
    Vor meinem inneren Auge blitzt kurz ein gesichtsloses Bild einer kleinen, weißhaarigen Dame auf, die nach Babypuder und alten Leuten riecht und deren Lebensinhalt darin besteht, Schokokekse zu backen.
    »Ich wusste nicht, dass ich eine Grandmother habe«, erwidere ich und betone das »th«, weil Ron wie alle Israelis, die ich kenne, kein »th« sprechen kann – diesen Laut gibt es in ihrer Sprache nicht.
    Die Mutter meiner Mom starb kurz nach meiner Geburt, sodass ich ohne Großmutter aufgewachsen bin. Plötzlich spüre ich einen Stich in der Brust – eine Mischung aus Trauer und Selbstmitleid –, weil ich gar nicht gewusst habe, dass ich noch eine Oma habe. Und nun, da ich es erfahre, ist sie krank. Kein schönes Gefühl. Schnell schiebe ich es in die hinterste Ecke meines Gehirns, weit weg, damit ich davor sicher bin.
    Ron räuspert sich. »Sie lebt in Israel und … äh … ich fliege über den Sommer dahin. Ich würde dich gern mitnehmen.«
    Israel?
    »Ich bin keine Jüdin«, platze ich heraus.
    Er stößt einen leisen Laut aus, als hätte er Schmerzen. »Man muss kein Jude sein, um nach Israel zu reisen, Amy.«
    Und man muss kein Raketentechniker sein, um zu wissen, dass Israel genau mitten in einem Kriegsgebiet liegt. Ein Kriegsgebiet!
    »Danke für das Angebot«, sage ich, »aber ich fahre diesen Sommer ins Tennis-Camp. Richte Grandma gute Besserung von mir aus. Tschüss!« Ich lege auf.
    Es dauert keine vier Sekunden, bis das Telefon wieder
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