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Was uns nicht gehört - Roman

Was uns nicht gehört - Roman

Titel: Was uns nicht gehört - Roman
Autoren: Nagel , Kimche AG <Zürich>
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den er zur Untermalung seiner Worte zur Seite ausgestreckt hatte, und auch wenn es im Möbelhaus keinen einzigen Gang gab, der für mehr als zehn Meter geradeaus führte, stieß ich schon bald auf Schilder, die mir den Weiterweg wiesen, alle fünf Meter eins, und als ich schließlich durch eine Flügeltür ins Freie trat, lag eine weitläufige Terrasse vor mir, die, soweit ich erkennen konnte, ausschließlich mit Gartensitzgruppen für 39,90 Euro möbliert war. Gartensitzgruppen, an denen sich hier und da Paare oder einzelne Personen niedergelassen hatten, vor sich Getränke und kleinere Speisen, die aus einem kleinen Imbisshäuschen am Ende der Terrasse zu stammen schienen, an dem ein paar Tafeln lehnten, die ich aus der Entfernung nicht lesen konnte.
    Ich setzte mich an einen freien Tisch und befühlte das Holz, an dem nichts auszusetzen war, und stellte mir die Sitzgruppe bereits in meiner Wohnung vor, als ich einige Tische weiter einen Mann entdeckte, der aussah wie mein Vater. Er saß ein wenig schief, als würde er schlafen, und hatte seine nackten Füße auf einem zweiten Stuhl abgelegt, vor sich trotz der frühen Stunde ein Glas Bier und einen Schnaps, und als er unvermittelt die Augen öffnete und in meine Richtung sah, winkte er mich zu sich heran. Er wirkte frisch und im Besitz all seiner Sinne, ein gutgelaunter Vater, wie man ihn sich an einem Tag im Oktober nur wünschen kann. Ich zögerte und rückte die Perücke auf meinem Kopf zurecht, und als ich schließlich aufstand und mich mit tastenden Schritten auf ihn zu bewegte, rief er mir entgegen: «Sie trauen sich was, bei Gott, Sie trauen sich was.»
    Dann lachte er. Ein endloses, dröhnendes Vaterlachen, das ich als Kind gleichermaßen geliebt wie gefürchtet hatte, doch als ich mich Sekunden später zu ihm setzte, verstummte er von einem Moment auf den nächsten. Stattdessen hörte ich ihn schwer und mühevoll atmen, so wie mein Vater bisweilen in seinem Bett schwer und mühevoll atmete, «der Pschorri», sagte ich leise, «ist jetzt aber auch schon lange tot.»
    Nicht weit entfernt gibt es einen dumpfen Knall, wie von einem Vogel, der gegen eine Scheibe geflogen ist, kurz darauf das knatternde Schlagen eines herannahenden Hubschraubers, als käme er, ihn zu retten. Ich stehe auf und gehe zurück ins Möbelhaus und weiter die Gänge entlang, bis ich irgendwann zurück auf dem Parkplatz bin, über mir ein sattblauer Himmel, ein Tag ohne Makel. Ein paar Einkaufsgesichter eilen an mir vorbei, ohne mich zu beachten, rasch verlieren sich ihre Schritte in meinem Rücken. Ich senke den Blick und schaue auf den fleckigen Asphalt und weiter auf meine Schuhe, die an den Rändern dicke Erdkrusten tragen und die mir auch sonst ziemlich ramponiert erscheinen. Das Leder ist rissig geworden, an zwei Stellen löst sich bereits die Sohle vom Schuh.
    Nicht mehr lange, und ich werde mich von ihnen trennen müssen.

Martin Gülich
    Martin Gülich, 1963 in Karlsruhe geboren, studierte Wirtschaftsingenieurwesen und arbeitete als Software- und Planungsingenieur. Seit 1997 ist er hauptberuflich Schriftsteller, 2000 bis 2005 leitete er das Literaturbüro Freiburg. Seine Romane wurden in neun Sprachen übersetzt, Septemberleuchten wird voraussichtlich fürs Kino verfilmt (Pupkin Film).
       
       

Auszeichnungen
    2012 Stipendiat des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg
    2010 Heinrich-Heine-Stipendium, Lüneburg
    2009 Aufenthaltsstipendium Künstlerhaus Edenkoben
    2008 Reinhold-Schneider-Förderpreis der Stadt Freiburg
    2007 Bahnwärterstipendium der Stadt Esslingen am Neckar
    2006 Stipendiat des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg
    2006 Stipendium Künstlerhaus Kloster Cismar
    2005 Stadtschreiber von Rottweil
    2005 Stipendiat des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg
    2003 Thaddäus-Troll-Preis
    2001 Stipendiat des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg
    1999 Stipendiat des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg

Bibliographie
    Im Nagel & Kimche Verlag sind erschienen:
    2009 Septemberleuchten. Roman
    2012 Was uns nicht gehört. Roman
    Weitere Veröffentlichungen:
    1999 Vorsaison. Roman
    2001 Bellinzona, Nacht. Roman
    2003 Bagatellen. Kurzprosa
    2004 Zeitzonen. Hrsg. zusammen mit Michael Lentz, Antje Rávic Strubel und Thomas Hoeps
    2005 Die Umarmung. Roman
    2006 Später Schnee. Roman
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