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Was uns nicht gehört - Roman

Was uns nicht gehört - Roman

Titel: Was uns nicht gehört - Roman
Autoren: Nagel , Kimche AG <Zürich>
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aus einem Holz.» Kurz darauf war er eingeschlafen.
    Das alles war vier oder fünf Jahre her, und seitdem hatte sich Kremer nie mehr in solcher Weise vor mir aufgeknöpft. Vielleicht war ihm seine Vertrautheit im Nachhinein peinlich gewesen, aber vermutlich lag es allein daran, dass ich seither auf keins der Betriebsfeste mehr gegangen war. Nicht Kremers wegen oder doch Kremers wegen, so ganz war ich mir nicht im Klaren darüber.
    Kremer schenkte mir Kaffee ein.
    «Milch, Zucker?», fragte er, und an seinen ungeschickten Bewegungen erkannte ich, dass er nervös war.
    Er lehnte sich auf seinem Sofa zurück, werkelte sich aber schon Sekunden später wieder vor zur Sitzkante.
    «Epkes», sagte er, «Sie wissen, was Outsourcing bedeutet.»
    «Natürlich», erwiderte ich, «jeder weiß das.»
    Kremer nickte. «Gut», sagte er, «das ist gut.»
    Er schwieg eine Weile, dann griff er nach seinem Kaffee und nahm ein paar kleine Schlucke. Als er seine Tasse wieder absetzte, nickte er mir ein weiteres Mal zu oder an mir vorbei, ich selbst war nicht mehr ganz bei der Sache. Im Grunde wusste ich, auf was das Ganze hier hinauslief. Ich schaute zum Fenster. Kremers Zimmer war mit einer Jalousie abgedunkelt. Einzelne Lamellen waren verbogen und gaben den Blick frei auf ein paar Bäume, von denen einer krank war. Einige Äste waren völlig entlaubt, das Holz überzogen mit weißen Placken, die an manchen Stellen bereits die Rinde aufzufressen schienen. Vielleicht, so dachte ich, hatte der Baum Krebs. Rindenkrebs. Zwar hatte ich noch nie von etwas Derartigem gehört, aber das musste nichts heißen. Von den meisten Dingen hatte ich noch nie etwas gehört, auch von solchen, von denen ansonsten jeder schon einmal gehört hatte. Erst kürzlich hatte ich in der Zeitung gelesen, dass Willy Brandt tot war. Seit neunzehn Jahren. Nicht dass ich mir Willy Brandt irgendwann in den letzten neunzehn Jahren einmal lebend vorgestellt hatte, aber ich hatte einfach nicht mitbekommen, dass er gestorben war. Oder ich hatte es doch mitbekommen, in der Zwischenzeit aber wieder vergessen, ein Gedanke, der mich auf der Stelle noch mehr beunruhigte. Es gab in meiner Familie einen gewissen Hang zur Demenz, die sich wie ein riesiger Krake alles griff, was in ihre Reichweite kam. Zuletzt meinen Vater, der unterdessen nur noch seinen Hund erkannte, oder nein: der in jedem Hund seinen Hund erkannte, ganz gleich ob Dackel oder Schäferhund, aber das alles machte aus ihm, wie es schien, keinen unglücklichen Menschen. Im Gegenteil: Alles Nörgelnde, Bevormundende, Cholerische und Egomanische, das sein Leben immer fest im Griff gehabt hatte, war von ihm abgefallen, und an manchen Tagen wünschte ich mir, seine Demenz hätte schon zwanzig Jahre früher begonnen.
    Ich sah zurück zu Kremer, der in seinem Kopf erkennbar noch immer nach Worten kramte. Er rührte mit dem Kaffeelöffel in seiner Tasse, obwohl es dort schon lange nichts mehr zu rühren gab. Erst jetzt sah ich, dass vor ihm auf dem Tisch eine Mappe lag, die meinen Namen trug.
    «Der Baum», sagte ich und deutete zum Fenster, «der wird nicht mehr.»
    Kremer sah mich an und hörte auf zu rühren. Schließlich ließ er den Löffel los und faltete die Hände wie zum Gebet.
    «Mein Gott, Epkes», sagte er leise, «Sie wissen doch, dass mir so was nicht leichtfällt.»
    «Wie lange noch?», fragte ich.
    «Ich zahle Ihnen acht Monatsgehälter Abfindung, das ist mehr, als Ihnen ein Gericht geben würde.»
    «Sofort?»
    Kremer nickte. «Ja, sofort.»
    Ich stand am Fenster meiner Wohnung, wie ich es nun häufig am frühen Abend tat. Draußen dümpelte ein müder Juli vor sich hin, und obwohl der Wetterbericht nicht nachließ, Optimismus zu verbreiten, glaubte niemand mehr daran, dass der Sommer noch zu retten war. Auf einem der Balkone gegenüber sah ich, wie eine Frau ihren Mann ohrfeigte, ein Streit, der sich schon Sekunden später in einer ungelenken Umarmung auflöste. Ein wenig bedauerte ich es, dass die Auseinandersetzung, die so vielversprechend begonnen hatte, nicht wenigstens ein bisschen eskalierte. Dabei war mir nicht klar, was genau ich mir eigentlich wünschte. Vermutlich weitere Schläge der Frau, die, ich zweifelte nicht daran, den Richtigen trafen. Ich kannte den Mann vom Jedermann-Tischtennis, wo er immer ein wenig größer tat, als er in Wirklichkeit war, und gerne gegen Frauen antrat, denen er gönnerhaft ein paar Angabetricks verriet. Ein einziges Mal hatte ich gegen ihn gespielt und
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