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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman
Autoren: C.H.Beck
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in absurder Komplizenschaft, wiederholten den Code, den keiner von uns zu entschlüsseln vermochte.
    «Napoleon, der Kaiser der Franzosen.»
    «Po-lion. Po-lion.»
    Er sah mich unsagbar eindringlich an. Während unseres abgehackten Wortwechsels waren die anderen näher getreten, formten hinter mir einen Halbkreis, aufmerksam und erstaunt.
    Plötzlich überraschte der weiße Wilde sogar die Soldaten, die ihn bewachten, indem er sich umwandte und zur Gartenmauer rannte. Zuvor hatte er sich überhaupt nicht flink bewegt, sondern im Gegenteil einen trägen, resignierten Eindruck gemacht. Im ummauerten Garten gab es für ihn keine Fluchtmöglichkeit. Er versuchte weder, über die Mauer noch auf einen Baum zu klettern und auch nicht, einen aus unserer Gruppe zu überwältigen. Die Wächter wollten ihn fassen, doch der Gouverneur hielt sie mit einer Handbewegung zurück. Der weiße Wilde schenkte all dem keine Beachtung. Er blickte über die Pferdeställe der Garnison hinweg Richtung Meer und rief so etwas wie:
    «’Sis-Tié-Let-Pol.»
    Die wenigen Silben, die französischer Herkunft sein mochten, waren von Lauten durchsetzt, die keinerlei Ähnlichkeit mit bekannten Idiomen besaßen.
    Ich ging ruhig auf ihn zu, und er schreckte nicht zurück. So gut ich konnte, wiederholte ich seine Aussage. Er ermunterte mich mit seinem Blick und wiederholte sie seinerseits, aber sanfter, langsamer. Ich glaubte, vor den ersten beiden Silben Konsonanten herauszuhören,und versuchte es abwechselnd mit einem R, einem L, einem H. Gemeinsam gelangten wir zu folgendem Silbenrätsel:
    «R’sis-L’tié-Let-Pol.»
    Warum ausgerechnet diese Lautfolge, was versuchte er, damit zu sagen? Warum nur bei mir diese Reaktion, dieser Ausbruch? Was war es, das er keinem der anderen mitteilen wollte oder konnte?
    Womit beginnen zwei Menschen, die sich begegnen und keine Sprache gemein haben? Mit ihren Namen. Das hatte ich sowohl in Island als auch im Pazifik erlebt. Ich legte also die Hand aufs Herz – eine zeremonielle Geste, auf deren Universalität ich hoffte – und sagte:
    «Octave de Vallombrun.»
    Er imitierte die Geste – wieder etwas, das er vormals nicht getan hatte – und wiederholte:
    «R’sis-L’tié-Let-Pol.»
    Vielleicht wollte er sich vorstellen, indem er die ersten beiden Silben betonte. Vielleicht handelte es sich dabei um seinen Vor- und seinen Nachnamen. Ich versuchte es:
    «Narcisse?»
    «– R’sis!»
    Die Freude war ihm deutlich anzusehen, aber sein Gedächtnis verweigerte sich weiterer Wörter, und ihm traten Tränen in die Augen. Ich wiederholte also:
    «Narcisse? Das stimmt doch, mein Lieber? Du heißt Narcisse?»
    «R’sis», bestätigte er und legte eine Hand aufs Herz.
    Wir waren von unserem ersten Gespräch derart bewegt, dass wir beide verstummten. Ich starrte ihn an, als könnte mir sein Gesicht etwas über das Geheimnis seiner Existenz verraten.
    «R’sis-L’tié-Let-Pol», wiederholte ich leise vor diesem Rätsel in Menschengestalt.
    Von dem, was vermutlich sein Vorname war, hatte in der fremden Sprache nur die letzte Silbe überlebt. Ließ sich daraus schließen, dassdie drei anderen Silben drei weitere Namen oder Wörter darstellten? Ich hätte ein Reimlexikon benötigt, um dieser Hypothese nachzugehen – wobei ich mich auf jenes Vokabular beschränkt hätte, das bei Matrosen gebräuchlich war. Das letzte Fragment brachte mich dennoch auf einen Einfall:
    «Pol … Kommst du aus Paimpol? Hast du dich in Paimpol eingeschifft?»
    Er sah mich entgeistert an, und ich begriff, dass er des Französischen nicht wie von Zauberhand wieder mächtig sein würde, nur weil wir uns auf zwei Wörter verständigt hatten. Hier ging es nicht darum, einen Hahn aufzudrehen, sondern darum, nach einer Quelle zu schürfen und immer tiefer in sein Gedächtnis vorzudringen. Viele Monate lang würden allenfalls ein paar Tropfen zutage treten, ja, vielleicht war die Quelle sogar schon versiegt, und er würde seine Sprache niemals wiedererlangen.
    Mit ein paar freundlichen Worten beendete der Gouverneur das Zwischenspiel und bat uns erneut in sein Büro. Ich hörte gar nicht weiter auf das Gerede der anderen Gäste, die sich gegenseitig dazu beglückwünschten, dass keiner ihrer Landsleute derart tief gesunken sei und man dazu wohl einfach Franzose sein müsse.
    Auch ich war zu dem Schluss gekommen, dass sich hinter der Gestalt des weißen Wilden ein Franzose verbarg. Welch furchtbaren, dramatischen Jahre er verbracht haben mochte? Wer war
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