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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman
Autoren: C.H.Beck
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holländische Kapitän murrte, dass eine solche Beschreibung unmöglich auf einen Mann der Republik der Sieben Vereinigten Provinzen zutreffen könne, versuchte ich mir zum ersten Mal vorzustellen, wie das Leben dieses Unglücklichen verlaufen sein mochte. Was für die anderen Jahrmarktssensation oder Anlass für Zwist war, wurde für mich zu einem Gegenstand des Mitgefühls.
    Auf Einladung des Gouverneurs begaben wir uns in den angrenzenden Garten, den er für weniger einschüchternd hielt als den prunkvollen Salon. Der weiße Wilde hockte in der eben beschriebenen Haltung im Schatten eines großen Baumes, dessen Blätter in der Brise säuselten. Er wurde von zwei mit Knüppeln bewaffneten Soldaten flankiert. Sie bedeuteten ihm, sich zu erheben und sich nicht vom Fleck zu rühren.
    Dieser Mann vor uns war tatsächlich ein Weißer, die Beschreibung des Arztes traf zu, ovales Gesicht, gerade Nase, mittelgroßer Mund, ausgeprägtes Kinn. Die Falten, die sein Gesicht durchziehen, zeugen von großen Entbehrungen. Sein Körper ist muskulös, ohne ein Gramm Fett.
    Obgleich wir darauf vorbereitet waren, überraschte uns der Anblick: ein Weißer, nur mit einem Tuch um die Lenden, am ganzen Körper tätowiert, sah uns stumm und starr an.
    «Welcher der Herren möchte beginnen?» Der russische Baron war am schnellsten. Er trat vor und sprach einige Sätze. Ich bemerkte, mit welchem Interesse ihm der weiße Wilde zuhörte, ganz so, als sei er selbst begierig, eine Verbindung herzustellen. Doch löste kein Wort, keine Wendung ein Echo in ihm aus, und er schien darüber ebenso enttäuscht wie der Baron. Dieser kehrte mit verächtlichem Gesichtsausdruck zu unserer Gruppe zurück, steckte sich eine Zigarre an und verkündete, es handele sich hierbei auf keinen Fall um einen Untertan Seiner Majestät des Zaren.
    Jetzt war die Reihe an dem italienischen Priester. Laut betete er das Pater Noster – für sein Gegenüber oder auch für uns alle –, mit demselben Ergebnis: Die Reaktion erschöpfte sich in konzentrierter, höflicher Aufmerksamkeit. Er versuchte es im neapolitanischen Dialekt. Der weiße Wilde reagierte auf den Unterschied in Klang und Rhythmus und bestätigte damit die Verstandesschärfe, die man ihm nachsagte. Aber er gab keinen Ton von sich. Nach weiteren erfolglosen Sätzen wechselte der Priester abermals das Register und stimmteso etwas wie ein Schlaf- oder Kinderlied an, in einem lächerlichen, zugleich rührenden Falsett. Der weiße Wilde schien den Übergang vom gesprochenen zum gesungenen Wort zwar zu begreifen, Neapolitanisch begann er dennoch nicht zu sprechen.
    Spanisch, Portugiesisch, Holländisch und Deutsch war kein größerer Erfolg beschieden. Allerdings zeigte sich das Interesse des weißen Wilden bei jedem Versuch ungebrochen. Ich hatte den anderen Herren den Vortritt gelassen, um über mein eigenes Vorgehen besser nachdenken zu können. Doch vermutlich würde ich am Ende ebenso entwaffnet dastehen vor diesem Unglücklichen, der im Aussehen eindeutig einem Weißen, im Auftreten eindeutig einem Wilden glich. Was sollte ich zu ihm sagen?
    «Na, mein Lieber, kommst du wie ich aus Frankreich? Möglicherweise bist du aus Marseille aufgebrochen, oder aus Nantes oder Dieppe. Deine Eltern und Freunde warten in der Heimat auf dich. Willst du nicht dorthin zurück? Hilf mir, damit ich dir helfen kann.»
    Es war offensichtlich, dass er mich nicht verstand. Ich reichte ihm die Hand, eine Geste, an die keiner der anderen gedacht hatte: Er betrachtete sie aufmerksam, kam jedoch nicht auf die Idee, sie zu ergreifen.
    «Ich weiß nicht, wie lange du an dieser Küste umhergeirrt bist. Sicher mehrere Jahre. War das vielleicht noch zu Zeiten König Louis-Philippes, als du Schiffbruch erlitten hast? Weißt du überhaupt, dass Frankreich seit zehn Jahren wieder ein glanzvolles Reich ist, über dessen Geschicke Kaiser Napoleon der Dritte bestimmt?»
    Ich kann Ihnen nicht erklären, warum ich ihm von unserer Regierung erzählte, doch zur Überraschung aller antwortete er mir langsam und mühevoll:
    «Po-Ion.»
    Bis dahin hatte er in keiner einzigen Sprache etwas wiederholt, er hatte nicht einen Laut von sich gegeben. Die Gruppe von Beobachtern in meinem Rücken war verstummt.
    «Napoleon, genau. Du erinnerst dich an seinen Namen? Napoleon. Der Kaiser Napoleon.»
    Sein Blick bohrte sich in meinen, wie um verlorene Erinnerungen darin zu finden.
    «Po-lion.»
    Beide bewegt von diesem ersten Austausch, wiederholten wir den Namen
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