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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman
Autoren: C.H.Beck
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Narcisse, wie war er nach Australien gelangt und welche Qualen hatte er durchlitten? Was war nach dem Schiffbruch aus der restlichen Besatzung geworden? All diese Fragen drängten sich in meinem Kopf.
    Als wir abermals an dem großen Versammlungstisch Platz genommen hatten – durch die Terrassentür sah ich den mutmaßlichen Narcisse reglos im Garten hocken –, dankte der Gouverneur allen Gästen höflich für ihre Hilfe bei dem Experiment. Dieses habe gezeigt, dass es sich hierbei um einen Franzosen handele. Oder würde dem irgendwer widersprechen?
    Er betonte, dass es natürlich jedem weiterhin freistehe, seiner Regierung Mitteilung davon zu machen. Da keinerlei Grundlage für Gegenbeweise oder diplomatische Einwände bestehe, sei er bereit, sich selbst dieses beispiellosen Falls anzunehmen. Die Vorgehensweise fand allgemeine Zustimmung, und die Vertreter der verschiedenen Länder verabschiedeten sich, erheitert von dieser sonderbaren Geschichte.
    Ich wollte ebenfalls gehen, doch der Gouverneur bat mich um ein Gespräch unter vier Augen. Er wies mich darauf hin, dass es in Sydney noch keinen französischen Konsul gäbe und dass er nicht wisse, was er mit Narcisse anfangen solle. Gewunden und behutsam legte er mir nahe, mich um ihn zu kümmern. Die Kolonie werde für alles aufkommen, die Rückkehr nach Europa eingeschlossen. Mit anderen Worten: Er wollte sich des weißen Wilden entledigen, und ich sollte ihm dabei helfen.
    Mein erster Einwand bestand darin, dass mir jede Berechtigung fehle, mich um einen Landsmann zu kümmern. Der Gouverneur ließ mich ausreden und versprach, dass mir ein Richter aus Sydney so schnell wie möglich eine Vormundschaft über den weißen Wilden ausstellen werde.
    Mein zweiter Einwand betraf meinen Status als einfacher Reisender. Ich hatte keinerlei offizielle Funktion und keinerlei Recht, die Verantwortung für den Verunglückten zu übernehmen. Der Gouverneur stimmte mir zu, doch an wen sonst sollte er sich wenden? Außer mir hielt sich zu jener Zeit kein anderer Franzose von gewissem gesellschaftlichen Rang in der Kolonie auf.
    Ich wagte nicht, ihm zu gestehen, dass ich die weite Welt alleine erkunden wollte – das war einer Ihrer wertvollen Ratschläge gewesen, Monsieur le Président. Zwar war ich hin und wieder auf angenehme Weggefährten gestoßen, hatte aber nie mehr als einen Abend mit ihnen verbracht oder eine Exkursion mit ihnen unternommen.Manch einer hatte vorgeschlagen, unsere Reiserouten zusammenzulegen, sowohl zur Zerstreuung als auch zur Sicherheit. Ich jedoch hatte stets abgelehnt. Und jetzt sollte ich mich mit diesem Unbekannten belasten, der weder so sprach noch so aß wie wir? Der sicher genauso viel Fürsorge benötigen würde wie ein Kleinkind?
    Der Gouverneur vermied es geflissentlich, auf meine Besorgnisse näher einzugehen, ja, er schien sie sogar zu teilen. Aber was blieb ihm anderes, was würde aus dem weißen Wilden werden, wenn ich ablehnte? Wenn er ihn freiließe, so würde er am Hafen von Sydney verhungern – falls ihn die Sträflinge dort nicht schon vorher zu Tode geprügelt oder die Polizisten verhaftet hätten. Sollte er ihn etwa im Gefängnis behalten, ohne Aussicht auf Entlassung, ohne Urteil, ohne juristische Grundlage – ohne dass irgendeine Anklage gegen ihn bestand? Oder sollte er gar einem Schiff der Kolonie befehlen, diesen Franzosen an Bord zu nehmen und in derselben Ödnis auszusetzen, in der man ihn gefunden hatte? Ein so unbarmherziges Vorgehen würde, sobald es anständigen Menschen zu Ohren käme, Proteste auslösen – auch in der kaiserlichen Regierung.
    Seine Rückkehr nach Frankreich sei die einzige Lösung, und ich die einzig verfügbare Hilfe.
    Der weiße Wilde verharrte reglos unter seinem Baum. Mir schwindelte ein wenig. Ich bat den Gouverneur um einige Tage Bedenkzeit, die er mir gerne gewährte.
    Zwei Tage darauf willigte ich ein.
    Soll ich es Ihnen gestehen? Sie spielten eine Rolle bei dieser Entscheidung. Der Gouverneur hatte mit seinen Begründungen nicht unrecht gehabt, die Mitmenschlichkeit verlangte, mich meines Landsmanns anzunehmen. Die Vaterlandsliebe ebenso. Trotzdem hätte ich all das übergehen und ablehnen können, ohne weitere Erklärung oder indem ich auf die Anforderungen der Reise verwiesen hätte, die ich unter der Ägide Ihrer Gelehrtengesellschaft unternahm.
    Doch ich wollte mich nicht länger Illusionen hingeben. Als ich, von der Abendbrise umweht, auf der Hotelterrasse saß und nachdenklich auf die
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