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Was kostet die Welt

Titel: Was kostet die Welt
Autoren: Nagel
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Wald duftet so frisch, wie noch nie irgendwas geduftet hat. Nach zwanzig Minuten Fahrt überholt uns rechts neben der Straße ein Flugzeug. Es ist eine Maschine der Ryan Air. Sie beschleunigt. Hebt langsam ab. Das Fahrgestell wird eingefahren, dann schießt das Flugzeug pfeilgerade in den hellblauen Himmel. Erhaben. Majestätisch. Elegant. Darin sitzen lauter aufgeregte Menschen, unterwegs zu einem fernen Ziel, auf das sie sich schon lange gefreut haben. Eine schöne Vorstellung.
    Auf den Straßenschildern ist jetzt in Blau die Autobahn ausgeschildert. Wir sind auf dem Weg nach Osten. Ich bin auf dem Weg raus. Ich schnippe meine Kippe aus dem Fenster und lasse es einen kleinen Spalt weit geöffnet. Der Wind streichelt mein Haar, die Sonne wärmt meine Schulter. Sommeranfang.

    Ich habe noch genau hundertdreißig Euro. Dafür sollte ich ein Zugticket nach Berlin bekommen, vielleicht sogar noch eine Schachtel Zigaretten und eine Flasche Wasser. Dann ist das Geld weg. Dann ist das Geld endlich weg. Fürs Erste kann ich mir die Miete bestimmt bei Silvia oder Holger leihen, und dann werde ich eben wieder Stunden kloppen, so viele Schichten übernehmen wie möglich, wird schon hinhauen, hat ja immer irgendwie hingehauen.
    Die Autobahn ist leer. Es ist, als wäre sie nur für mich gebaut worden, eine Rampe zurück in das Leben, in das ich gehöre. Ich bin der Wal, der zurück ins Meer geschoben wird, nachdem er fast von seinem eigenen Gewicht erdrückt worden wäre. Der Russe, der sich aus Polen zurückzieht. Der Amerikaner, der Vietnam verlässt.
    Geschlagen, aber nicht vernichtet.
    Besiegt, aber am Leben.
    Heute Nachmittag werde ich wieder in der Stadt sein, bei den breiten Bürgersteigen, dem Südseewind auf meinem Badewannenrand und den gardinen- und jalousienlosen Fenstern der Altbauwohnungen gegenüber, bei der Hundescheiße auf den Straßen, den Graffiti, den Junkies, den Verrückten, den Türken und Arabern und Skandinaviern und Amerikanern und Spaniern, bei den Touristen und den Praktikanten, bei meinem hustenden Nachbarn, dem Nichtstuer, und Frau Schenk, bei Holger, Yolanda und dem Radetzky, bei Psycho-Heiko und Itchy.

    Â»Herr Birnbaum? Herr Birnbaum, aufwachen! Wir sind da!«
    Â»Was?«
    Â»Wir sind da.«

    Â»Wo?«
    Â»Frankfurt Hauptbahnhof.«
    Â»O ja, alles klar.«
    Â»Hier, Ihre Tasche.«
    Â»Haben Sie vielen Dank.«
    Â»Der Haupteingang ist da vorne.«
    Â»Danke. Sind wir gut durchgekommen?«
    Â»Ja.«
    Â»Schön.«
    Â»Also, gute Fahrt dann noch.«
    Â»Ebenso.«
    Â 
    Mit meiner Tasche auf dem Rücken stolpere ich durch ein Meer aus Taxis. Es ist Sonntagmorgen, kurz vor halb zehn. Am Hauptbahnhof herrscht schon geschäftiges Treiben. Der längste Tag des Jahres. Der Sommer hat gerade erst begonnen.

19
    Die Abendsonne sieht aus wie ein großer roter Lampion, der nur an ein paar dünnen Fäden hängt und irgendwo in Mitte oder Charlottenburg langsam in den Kanal getaucht wird. Ich sitze auf meiner Bank und schreibe in die Kladde, die ich mir heute Mittag gekauft habe. Ich schreibe, um mich zu sortieren. Weil ich mir selbst in letzter Zeit etwas unsortiert vorkam. Ich hatte das Gefühl, mal den Deckel vom Topf nehmen zu müssen.
    Neben mir hockt der Nichtstuer. Er tut, was er immer tut: nichts.
    Ich habe gerade umgeblättert, da landet ein Haufen Vogelscheiße auf der leeren Seite. Ich schaue nach oben in das Geäst der Buche. Der Übeltäter ist nirgends zu sehen.
    Â»Ist mir auch schon passiert«, sagt der Nichtstuer. »Aber auf den Kopf.«
    Es ist das erste Mal, dass ich ihn sprechen höre. Seine Stimme klingt klar und voll und erstaunlich jugendlich. Er lächelt. Ich lächle auch.
    Er holt einen Beutel Krümeltabak hervor und beginnt langsam, eine seiner dünnen Zigaretten zu drehen. Ich biete ihm eine Benson & Hedges an. Er lehnt dankend ab.
    Wir rauchen schweigend.
    Dann zieht er seine Sangriabombe aus dem Anorak und setzt sie vorsichtig an, eine Hand am Hals, die andere am
Boden der Flasche. Sie ist fast leer. Er legt den Kopf in den Nacken und nimmt einen kleinen Schluck.
    Wie viele Flaschen er wohl geleert hat, während ich weg war?
    Bei den winzigen Schlucken ist es vielleicht immer noch dieselbe wie letzte Woche. Ist das wirklich erst eine Woche her? Kommt mir vor, als wäre ich zwischendurch auf einer Weltreise gewesen.
    Â 
    Langsam tuckert
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