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Was kostet die Welt

Titel: Was kostet die Welt
Autoren: Nagel
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darauf beginnt sie zu schnarchen.
    Â 
    Es ist dunkel und ruhig. Frau Randlos schläft, das Ehepaar neben mir schläft, und Verena schläft vermutlich auch. Sie
sitzt einige Reihen hinter mir, wir haben zu spät eingecheckt, es waren nebeneinander keine Plätze mehr frei. Ich kann damit leben, nach den mehr als zwei Monaten, die wir aufeinandergehangen haben. Es war gut, aber es reicht jetzt auch.
    Ich frage mich, ob sie ahnt, was ich weiß. Nämlich dass wir zwar ein paar schöne Wochen hinter uns, aber keine Zukunft vor uns haben. Zumindest keine gemeinsame. Wenn wir um neun Uhr Berliner Zeit landen, werden wir zu mir fahren, noch ein paar Stunden in meinem Bett schlafen, vielleicht ein letztes Mal miteinander, und abends wird sie ein Taxi zum Bahnhof nehmen und den Zug nach Hannover. Ich werde sie nicht begleiten, sondern mich leise und unaufgeregt auf der Straße von ihr verabschieden, weil es so einfacher für alle ist. Sie wird in ihr Leben zurückfahren, und ich werde in meinem bleiben, bis wir uns vielleicht irgendwann mal wiedersehen. Und dann mal gucken.
    Ich versuche einzuschlafen, doch es klappt nicht. Ich ziehe die Kapuze über den Kopf, klappe den Sitz nach hinten und setze mir sogar zum ersten Mal in meinem Leben eine Schlafbrille auf, so ein dämliches rotes Ding, das sie einem mit Kopfhörer und Ohrstöpsel in die Hand drücken und das einen aussehen lässt wie einen dieser gestörten Typen aus Eyes Wide Shut .
    Es geht einfach nicht. Müde und aufgedreht zugleich schalte ich das Licht wieder ein und blättere in einem amerikanischen Frauenmagazin, das ich am Flughafen gekauft habe. Es geht um Mode, um Style, um Musik und um Anzeigen. Eigentlich sind die Anzeigen das Beste am ganzen Heft, besonders die mit den gut gekleideten hübschen Frauen, von namhaften Fotografen in interessanten Posen abgelichtet.
    Â 
    Als ich die Klotür schließe, wird die enge Parzelle von einem breiten Strahl aus weißem Licht überflutet. Ich lasse meine Hose auf die Knöchel sacken, breite die Zeitschrift auf dem zahnarztpraxisfarbenen Waschbecken aus und onaniere mit dem Blick auf das magersüchtige Model aus der Hugo-Boss-Werbung, das sich mit halboffenem Mund und den Beinen auf der Lehne eines weißen Designersofas räkelt. In meinem Kopf räkelt sich dort meine amerikanische Sitznachbarin.
    In 10.965 Metern Höhe über dem Atlantischen Ozean, bei 876 km/h und minus 58 Grad Celsius Außentemperatur, tropft mein warmer Samen in die Toilette und wird mit Hochdruck weggesaugt.

2
    Mein Nachbar hat seinen Wecker auf 05:44 Uhr stehen, und ich somit zwangsläufig auch. Zwar höre ich kein Klingeln, Piepen oder irgendein anderes Weckgeräusch, aber es kann kein Zufall sein, dass der Mann jeden Morgen um die gleiche Zeit anfängt zu husten. Und er hustet sich die Lunge aus dem Leib, so laut und exzessiv, dass ich wach im Bett liege und gar nicht glauben kann, dass da überhaupt noch eine Wand zwischen uns ist.
    Ich weiß nicht, wie mein Nachbar aussieht, habe aber ein Bild im Kopf. Es beinhaltet schlechte Haut und jede Menge Körperbehaarung.
    Seine morgendlichen Hustorgien jedenfalls klingen nach achtunddreißig Jahren Kohlebergwerk, nach zweiundvierzig Jahren Reval ohne Filter, ein Röcheln und Würgen aus den tiefsten Tiefen seines Körpers, der einem rostigen alten Kahn zu ähneln scheint. Er macht sich keine besondere Mühe, das zu verstecken. Es klingt eher, als ob er extra laut hustet, damit er nicht als Einziger darunter leiden muss.
    So geht das in unregelmäßigen Abständen bis ungefähr halb sieben. Dann scheint er aufzustehen, das Husten entfernt sich. Seit ich wieder hier bin, werde ich jeden Morgen so geweckt. Ich weiß nicht, ob das neu ist oder ob ich es früher nur nicht gehört habe.
    Nachdem ich mich eine Weile im Halbschlaf hin und her gewälzt habe, stehe ich schließlich auf. Ich koche mir einen
starken Kaffee und setze mich in den schmutzigen Plastikstuhl auf dem Balkon. Die Junisonne klettert gerade über die Hausdächer. Es ist noch ziemlich frisch, aber die Straße sieht schon erstaunlich belebt aus. Leere Gesichter auf dem Weg zur Arbeit, oder zur Schule, oder zur Uni, was weiß ich, wo die alle hinwollen. Vielleicht auch alle nur zum Jobcenter Neukölln, um sich dort mit den anderen Hartz-IV-Empfängern die Beine in den Bauch zu stehen.
    Meine Straße um sieben Uhr morgens,
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