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Was können wir wissen? - Philosophische Grundfragen

Was können wir wissen? - Philosophische Grundfragen

Titel: Was können wir wissen? - Philosophische Grundfragen
Autoren: Norbert Hoerster
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annimmt, nur
einen
Gott gibt? Könnten sich nicht ebensogut mehrere übernatürliche Wesen (welcher Art im einzelnen auch immer) das Projekt der Erschaffung bzw. Gestaltung der Welt geteilt haben? Auch im menschlichen Bereich ist es doch eigentlich so, dass die wirklichen Großprojekte – man denke an einen neuen Stadtteil oder an einen Vergnügungspark – nicht von einer einzigen Person errichtet werden können, sondern den Einsatz nicht nur zahlreicher Bauarbeiter, sondern auch mehrerer Architekten erfordern. Hat insofern nicht der Polytheismus vielleicht die besseren Karten?
    Schon diese beiden Einwände reichen aus, um zumindest folgendes deutlich zu machen: Es ist ein (häufig begangener) Denkfehler, so zu tun, als ob die einzige Alternative zu einem materialistischen Weltbild, für das es keine Wirklichkeit jenseits der naturwissenschaftlichen Wirklichkeit gibt, die monotheistische Gotteshypothese wäre, also die Existenzannahme eines einzigen, rein geistigen Wesens, das die Welt aus dem Nichts erschaffen hat. Zumindest zwei weitere Alter-nativen sind ebenso denkbar: zum einen die Annahme eines mit dem materiellen Universum eine Einheit bildenden geistigen Ordnungs- und Lenkungsprinzips und zum anderen die Annahme mehrerer göttlicher Wesen im Sinne des Polytheismus.
    Doch es gibt in diesem Zusammenhang noch einen grundlegenderen und gravierenderen Denkfehler, der vielleicht noch häufiger ist. Dieser Denkfehler wird dann begangen, wenn die Situation so dargestellt wird, als ob es gar nicht darauf ankäme,
welche
Religion mit
welchen
Glaubensannahmen man sich zu eigen macht, sondern nur darauf,
dass
man
überhaupt
religiös sei. Denn, so wird gesagt, die verschiedenen Religionen seien im Grunde doch nichts anderes als unterschiedliche Deutungen oder Bezeichnungen für ein und dieselbe höhere Wirklichkeit.
    Doch diese Behauptung ist unsinnig: Wenn der Monotheismus Recht hat, dann sieht notwendig auch die höhere
Wirklichkeit
als solche ganz anders aus, als wenn der Polytheismus Recht hat. Und Gleiches gilt natürlich bezüglich der Annahme eines mit der Materie verbundenen geistigen Ordnungs- und Lenkungsprinzips. Ja, noch deutlicher wird der Unterschied dann, wenn man gar atheistische Religionen wie den Buddhismus, bei denen Merkmal 2 an die Stelle von Merkmal 1 tritt (siehe oben S. 101), in den Vergleich der Religionen miteinbezieht.
    Hinzu kommt: Die angesprochenen Unterschiede zwischen den Religionen sind nicht nur theoretischer Art, also bezogen auf die Merkmale 1 und 2. Diese Unterschiede können sich in erheblichem Maß auch auf die Merkmale 3 bis 6 auswirken, wie sich der Leser leicht klarmachen kann und wie die unterschiedliche Ausgestaltung dieser Merkmale in der Realität der verschiedenen Religionen auch sehr deutlich zeigt.
    In Wahrheit läuft die Haltung derjenigen, die im oben genannten Sinn auf die Austauschbarkeit der Religionen setzen,auf etwas ganz anderes hinaus, als ihnen selbst bewusst zu sein scheint: Sie läuft auf eine Position hinaus, die richtigerweise gar nicht mehr als eine religiöse, sondern als eine agnostische Position zu bezeichnen ist. Die Position besagt nämlich, konsequent zu Ende gedacht, etwa folgendes: Es gibt zwar so etwas wie eine höhere, dem materiellen Universum übergeordnete Wirklichkeit. Doch dies ist absolut alles, was wir über diese Wirklichkeit sagen können. Ob diese Wirklichkeit monotheistisch, polytheistisch, (in einem buddhistischen Sinn) atheistisch oder noch etwas anderes ist, ist menschlichem Wissen vollkommen verschlossen; denn diese Wirklichkeit ist für uns schlicht «unbegreiflich» und «undefinierbar» – wie moderne Theologen gern sagen.
    Dies ist gewiss eine vertretbare Position zur Frage der Religion. Sie stellt insofern eine weitere Alternative zu einem rein materialistischen Weltbild dar. Nur sollte man sich über Folgendes im klaren sein und sich darüber nicht täuschen lassen: Diese Position ist zwar keine materialistische, aber in Wahrheit auch
keine religiöse
Position. Denn sie verzichtet nicht nur auf jegliche Annahme, was die Merkmale 1 und 2 betrifft. Sie kann aus diesem Grund auch keinerlei irgendwie begründete Angaben zu den Merkmalen 3 bis 6 machen. Denn diese Angaben sind notwendig auf religiöse Glaubensannahmen der Kategorien 1 oder 2 angewiesen (so deutlich schon oben, S. 101).
    Man kann rationalerweise eben nicht auf die Existenz Gottes verzichten, wenn man zu diesem Gott beten möchte. Und zu einem «Gott» zu
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