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Was können wir wissen? - Philosophische Grundfragen

Was können wir wissen? - Philosophische Grundfragen

Titel: Was können wir wissen? - Philosophische Grundfragen
Autoren: Norbert Hoerster
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Merkmale 1 und 2 auskommt, die also keinerlei Annahmen über übernatürliche Wesen oder den Sinn des Weltverlaufs macht, kann von vornherein
nicht
unvereinbar mit unserem Wissen sein. Wer mit einer bestimmten religiösen Einstellung gar keine Annahmen über die Wirklichkeit verbindet, kann mit dieser Einstellung auch nicht gegen irgendein Wissen oder gegen irgendwelche Bedingungen für die Erlangung von Wissen verstoßen!
    Nicht selten wird heutzutage von religiösen Menschen, ob Laien oder Theologen, in der Auseinandersetzung mit religionskritischen oder atheistischen Auffassungen einer religiösen Einstellung das Wort geredet, die so verfährt, wie gerade dargestellt: Man gibt vor, auf jede Existenzannahme oder Annahme über die Wirklichkeit zu verzichten und die Religion auf die außertheoretischen, rein lebenspraktischen Elemente der Merkmale 3 bis 6 zu reduzieren. So glaubt man, die eigene Religion, die eigene religiöse Einstellung vor jeder Form theoretischer Erkenntniskritik bewahren zu können. Und dieser Glaube ist, wie wir sahen, im Prinzip durchaus gerechtfertigt: Wer gar keine Annahmen über die Wirklichkeit macht, kann wegen vielleicht falscher oder unbegründeter Annahmen über die Wirklichkeit auch nicht kritisiert werden.
    In Wahrheit muss der religiöse Mensch sich jedoch fragen, ob er einen solchen Verzicht auf jede Annahme über die Wirklichkeit tatsächlich konsequent durchhalten kann. Bei näherem Hinsehen erscheint dies kaum möglich. Man betrachte die Merkmale 3 und 5 in ihrem ausdrücklichen Bezugauf Merkmal 1. Wie kann man Normen anerkennen als «Gebote übernatürlicher Wesen», ohne an die
Existenz
dieser übernatürlichen Wesen zu glauben? Und wie kann man «Kontakte zu den übernatürlichen Wesen» aufbauen oder unterhalten, ohne ebenfalls von der
Existenz
dieser übernatürlichen Wesen überzeugt zu sein? Ja selbst die Riten der Kategorie 6 würden wohl ihren Sinn verlieren, wenn keinerlei religiöse Annahme über die Wirklichkeit hinter ihnen stünde.
    Ganz Entsprechendes wie für die Merkmale 3, 5 und 6 in ihrem Bezug auf Merkmal 1 gilt auch für die Merkmale 4, 5 und 6 in ihrem Bezug auf Merkmal 2. Mit anderen Worten: Die unverzichtbare Annahme über die Wirklichkeit kann, ohne dass ein Glaube an übernatürliche Wesen eine Rolle spielt, auch einen bestimmten Sinn des Weltverlaufs zum Gegenstand haben. Das beste Beispiel hierfür bietet, wie schon angedeutet, der Buddhismus, wonach der Gläubige das Ziel verfolgt, durch einen Ausbruch aus dem ewigen Kreislauf der Wiedergeburten und der mit ihnen verbundenen Leiden die endgültige Erlösung im «Nirvana» zu finden.
    Wenn im folgenden vom religiösen Glauben die Rede ist, sollen in erster Linie die zentralen monotheistischen, insbesondere die christlichen Glaubensannahmen der Kategorie 1 gemeint sein. Gerade in Bezug auf den Monotheismus lässt sich wohl am wenigsten bestreiten, dass ohne einen theoretischen Glauben – den Glauben an die Existenz eines übernatürlichen Gottes – die übrigen Merkmale religiöser Einstellung – wie die moralische Anerkennung göttlicher Gebote – vollkommen in der Luft hängen. Um seine Moral nachgöttlichen Geboten ausrichten zu können, muss man ganz offenkundig zunächst einmal von der
Existenz
eines Gottes überzeugt sein. Und außerdem muss man noch die beiden folgenden Überzeugungen haben: 1. Dieser Gott hat überhaupt Gebote erlassen. Und 2. Der Mensch kann den Inhalt dieser Gebote erkennen.
    An der Frage nach der Vereinbarkeit bestimmter theoretischer Glaubensannahmen mit unserem Wissen geht also, jedenfalls wenn die Vertretbarkeit einer der monotheistischen Religionen auf dem Prüfstand steht, kein Weg vorbei. Wie könnte man – um ein weiteres Beispiel, diesmal aus dem Bereich der Kategorie 5, zu zitieren – sinnvollerweise zu einem Gott beten oder einem Gott Liebe entgegenbringen, von dessen Dasein man zuvor nicht überzeugt ist?
    Möglicherweise gelingt es manchen Menschen ja trotzdem, Gott etwa um die Heilung einer schweren Krankheit zu bitten, auch ohne zuvor von seiner Existenz überzeugt zu sein. Zur Erklärung würden diese Menschen vielleicht sagen, dass sie, indem sie zu Gott beten, seine Existenz einfach postulieren oder sich wünschen. Ist ein solches Wunschdenken aber auch rational oder vernünftig? Würden wir es etwa für vernünftig halten, wenn ein junger Mann sein weiteres Leben auf die Hoffnung gründet, dass er eines Tages bei einem Glücksspiel den
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