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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie
Autoren: Paul Nolte
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sondern markieren eine denkbar tiefe historische Zäsur – das Ende von zweihundert Jahren westlicher Demokratiegeschichte. Seitdem treten wir in eine neue Ära politischer Entmündigung jenseits der klassischen autoritären Herrschaft ein, für den Colin Crouch den Begriff der «Postdemokratie» geprägt hat.
    Historiker sind da naturgemäß skeptisch, denn sie wissen: Die Demokratie hat schon viele Wandlungsprozesse und Krisen durchlaufen. Sie wissen auch, dass Menschen (auch Wissenschaftler!) dazu neigen, ihre eigene, zufällige Gegenwart zum Dreh- und Angelpunkt der Weltgeschichte zu stilisieren. Ganz ähnlich ist in den 1960er und 70er Jahren vom «Spätkapitalismus» die Rede gewesen, als stehe das Ende des Kapitalismus bevor, der in Wirklichkeit kurz darauf in eine besonders dynamische Phase seiner Geschichte eintrat. Wie der Spätkapitalismus steht die Rede von der Postdemokratie in einer linken, marxistischen Tradition. Das verleiht ihr kritisches Potential und zeitdiagnostische Kraft, verleitet sie aber zu einer Unterschätzung der historischen Beharrungskraft und der prinzipiellen Bedeutung liberaler Demokratie. Der von empirischen Sozialwissenschaftlern – gerade auch des «linken» Spektrums! – immer wieder scharf herausgearbeitete Aufstieg einer «Basisdemokratie» der unmittelbaren Bürgerbeteiligung und des zivilgesellschaftlichen Engagements kommt dagegen in der düsteren Vision von der «Postdemokratie» kaum vor.
    Genauso unbefriedigend ist aber das Horn des Triumphes, in das ein anderer Teil der Politikwissenschaft mit überbordendem Optimismus stößt. Danach kann von einem Niedergang der Demokratie gar keine Rede sein, die sich vielmehr, trotz einzelner Rückschläge, unaufhaltsam über immer größere Teile der Welt ausbreitet. Am Ende dieses Prozesses wird ihre universelle Ausbreitung stehen, die schon im historischenKeim des demokratischen Gedankens und in der fundamentalen Überlegenheit von Freiheit über Unterdrückung angelegt war. Diese Sichtweise wiederum verengt Demokratie auf einen institutionellen Bausatz aus Grundrechten, freien Wahlen, parlamentarischer Regierung und ein paar anderen Zutaten und kann die inneren Wandlungen, auch die inneren Gefährdungen eines solchen Patentregimes nicht einfangen. Sie macht den umgekehrten Fehler wie die Postdemokratiker: Während diese nämlich die Geschichtlichkeit (und damit die Vergänglichkeit) der Demokratie überschätzen, manchmal bis an die Grenze einer leichtfertigen Preisgabe der Demokratie, unterschätzen die Triumphalisten ganz eklatant ihre historische Gewordenheit und Offenheit, ihre «Kontingenz». Denn der Siegeszug der Demokratie ist alles andere als unvermeidlich, und es könnte tatsächlich irgendwann eine andere Form politischer Herrschaft geben, deren Form wir noch nicht kennen.
    So sind die wissenschaftlichen Perspektiven auf Geschichte und Gegenwart der Demokratie alles andere als einheitlich, und keineswegs objektiv, sondern vielmehr vom jeweiligen Standpunkt und von der Richtung des Blickes abhängig. Immer wieder lassen sich «Optimisten» und «Pessimisten» unterscheiden. Von ihrem politischen Standort her neigen Liberale und zivilgesellschaftlich inspirierte Linke eher zu einer optimistischen Sicht, Theorielinke und zumal Vertreter marxistischer Ansätze eher zum Demokratiepessimismus. Aber auch unabhängig von der eigenen politischen Position sind Theoretiker (und Theoretikerinnen, wie in der feministischen Demokratiedebatte) in der Regel skeptischer als empirische Forscher, die mehr die praktische Vielheit und Dynamik im Blick haben als die prinzipiellen Dilemmata und Grenzen von Demokratie. Eine andere Linie trennt, jedenfalls in der westlichen Forschung, die internationale Perspektive von der Binnensicht. Die einen sehen mehr die Gewinne in der globalen Ausbreitung von Demokratie, die anderen mehr die strukturellen Probleme im Innern westlicher Gesellschaften und formal konsolidierter Demokratien. Das verweist zugleich auf die Ungleichzeitigkeit demokratischer Erfahrung: Was viele Menschen im Westen langweilig und ausgezehrt finden, ist anderswo das höchste Gut, nach dem man zuallererst strebt: Meinungs- und Pressefreiheit, freie Wahlen, ein funktionierendes Parlament, ein Rechtsstaat! Und schließlich sind, aufs Ganze gesehen, in der gegenwärtigen Unsicherheit über die Zukunft der
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